In dem Studentenhotel begegnet ihm, als er den Lift verließ, auf dem Korridor ein junger Mensch, der in der rechten Hand einen kleinen gläsernen Kaffeekrug hielt und in der linken einen Teller mit gebutterten Weißbrotscheiben. Unter dem rechten Arm trug er eine Tageszeitung, blaue Balken im schwarzweißen Schriftbild, Kersting las die Wörter Bundespräsident Waldheim wird nicht . Der junge Mann war bleich und offenbar übernächtigt. Das Haar hing ihm schwarzsträhnig in die Stirn. Er trug eine Brille mit starken Gläsern. Er fiel Kersting auf wegen seiner etwas ungelenken Bewegungen.
In das Weichbild von Grotenweddingen ragten von Ferne sichtbar drei Berge. Aus einem von ihnen wuchs eine pompöse Schlossanlage. Die Obstbaumblüte geschah hier zwei Wochen später als beispielsweise in Chemnitz, und der andere Unterschied zu der Stadt, aus der Jacob und Robert kamen, waren die Dächer, die in Chemnitz aus Schiefer bestanden und hier aus rot gebrannten Ziegeln. Die darunter befindlichen Häusermauern waren in Grotenweddingen Fachwerk, manche mit Klinkern zwischen dunkelbraunen Stielen, manche mit weiß oder lindgrün gekalktem Lehm. Gebäude aus Klinkern standen zum Beispiel am Marktplatz oder in der Breiten Straße und hatten geschnitzte Balkenköpfe, deren Muster eine farbige Halbrosette war.
Es gab ein intaktes Stadttor. Ein ehemaliger Wehrturm verfiel unaufhörlich. Grotenweddingen hatte sich um ein paar dörfliche Gemeinden vergrößert und besaß eine Schmalspureisenbahn, deren Lokomotive außer einem besonders hohen Schornstein eine schrill tönende Glocke trug und die auf vielen zeitverschlingenden Serpentinen ins Gebirge fuhr.
Wegen seiner zehn Jahre war Jacob noch nicht alt genug, zu sagen, ob ihm die neue Stadt gefiel. Es brauchte eine Zeit, ehe er sich umgewöhnte und auch etwas den hier gesprochenen Akzent annahm, der von der plattdeutschen Mundart Ostfälisch kam. Die Bauern auf den Dörfern redeten bloß Dialekt. Am Stadtrand standen, zum flachen Land hin, also in Richtung Domäne Behncke, fünf gleichförmige Gebäudereihen aus Mietwohnungen, die der Fabrikant und NS-Wehrwirtschaftsführer Henseler hatte aufrichten lassen, für Arbeitsleute aus seiner Fabrik. Robert und Jacob wohnten dort, Erdgeschoss mit drei Zimmern. Manchmal, wenn er aus dem Fenster blickte, sah Jacob weidende Schafherden, hörte das Geblök der Tiere und atmete ihren scharfen Dunggeruch.
In etwas Entfernung von den Mietblöcken hatten sich Baracken aufgetan. Erst sechs und dann nochmals fünf und wieder fünf, einstöckige Dinger mit kleinen Fenstern und Bretterwänden, die nach Holzschutzmitteln stanken. Das Gelände umspannte ein Drahtzaun. Hier wohnten ausschließlich Männer, Fremdarbeiter, sie kamen aus Polen, Frankreich, Belgien, worüber ein entsprechender Buchstabe, den sie aufgenäht auf ihren Jacken trugen, eindeutige Auskunft gab. Sie sollten bei Walter Henseler mithelfen, Motoren zu bauen. Vereinzelt waren hinter geöffneten Fenstern ihrer Baracken spitze Harmonikatöne. Zwischen den Unterkünften wuchsen dickhalmiges Gras und verwilderter Liguster. Der Untergrund war lehmig.
Es gab eine in drei Windungen zum Stadtinneren laufende Straße. Rechts war die Kleingartenanlage Frohe Zukunft , mit Drahtzaun, Sonnenblumen und schwarzen Holzlauben, links fiel schäumend von einer Staustufe der Nöschenbach. Wo die Straße auf einer Brücke übers Wasser führte, befand sich rechts der Schlachthof, wo zweimal in der Woche die Schweine schrien, ehe ihnen der tödliche Bolzen ins Gehirn fuhr. Eine Bahnschranke senkte sich und schloss allen übrigen Verkehr aus, wenn ein Zug mit Personen nach Westerode fuhr oder von dorther kam.
Dies war Jacobs täglicher Weg. Ecke Grünstraße/Pfarrweg, wo er zweimal am Tag vorbeikam, stand das Haus Erika, jetzt Kriegslazarett, im offenen Fenster saßen junge Männer, um ihre bandagierten Köpfe, ihre Bein- und Armstümpfe ins Licht zu halten, wenn Sonne schien. Vom Sägewerk herüber kam Geruch von nassem Holz. In Findeisens Kohlenhandlung hob ein Fremdarbeiter Säcke voll Braunkohlenbriketts auf die Waage.
Der Große Markt war in der Form rechteckig, in seiner Mitte stand ein Metallbrunnen mit farbig lackierten Patrizierwappen und mehreren Wasserspeiern, denen das Wasser fortblieb. Kinder warfen Blechschachteln und Frühstückspapier in das tote Becken. Das Rathaus hatte kunsthistorische Berühmtheit, denn es besaß Freitreppe und Spitztürme, Fachwerk und Holzschnitzfiguren und war ein Werk der gotischen Baumeister Thomas Hagenow Vater und Sohn. Am Großen Markt begann der Suderweg, an dessen Ende, links neben dem Sudertor, hinter einer Straßenbiegung das Gymnasium stand. Hier wurde Jacob Schüler ab dem Sommer 1942.
Daneben gab es die Verpflichtung, dass Jacob ein Pimpf war bei Adolf Hitlers Jungvolk. Zweimal die Woche sollte er sich einfinden an dem vorgeschriebenen Treffpunkt, das war der dreckige Platz neben dem Schlachthofgebäude. Der Wimpel mit dem Hakenkreuz im Rhombus hing an seiner Stange schlaff herab. Lastwagen voll stinkender Kühe fuhren herbei und durchs Schlachthoftor. Drinnen brüllte schmerzlich vieles Vieh. Jacob vermied, so oft das möglich war, bei dieser Art Dienst zu erscheinen. Robert schrieb ihm die dazu nötigen Entschuldigungszettel. Manchmal schien in Grotenweddingen aller Krieg sehr weit fort.
Robert war unabkömmlich in Henselers Motorenfabrik. Es gab niemanden mehr wie zum Beispiel Gerda in Chemnitz. Jacob gewöhnte sich an die Abwesenheit von Frauen, wie an das Leben in Grotenweddingen, wie an die Leute und die Sprache von Grotenweddingen. Eine Hakenkreuzfahne besaß Robert immer noch nicht, konnte sie also nicht vors Fenster setzen und hatte, wenn ihn der Blockwart darüber ins Gespräch zog, immer noch flapsige Wörter im Mund. Häufig gab es jetzt Fliegeralarm. Walter Henseler hatte seine Wohnblöcke gleich mit Luftschutzkellern errichten lassen, die Decken aus Stahlbeton, eiserne Klappen vor Ausgangsschächten und Fenstern. Wenn Sirenen heulten und die Hausbewohner mit ihren vorsorglich gepackten Koffern in die Keller hasteten, stand Robert, sofern er überhaupt zu Hause war, lieber draußen im Freien und kümmerte sich überhaupt nicht darum, dass er damit gegen Verbote verstieß.
Kersting war an Josef Hoffmann über Umwege gelangt. Eigentlich hatte er über den belgischen Jugendstilarchitekten Henry van de Velde arbeiten wollen, er hatte einiges an Zeit und Mühe auf die Sache verwendet, zweihundertzehn von geplanten vierhundert Seiten waren bereits geschrieben, als ein DDR-Wissenschaftsverlag eine ausführliche van-de-Velde-Monografie druckte. Kersting kannte den Autor. Jörg M. Schliephake war Dozent an der Kunstakademie Berlin-Weißensee, ein langer Menschen mit breiten Schultern, dröhnender Stimme und einem auffällig großen Adamsapfel. Kersting mochte ihn nicht, und er mochte Schliephakes Texte nicht.
Das lag wohl auch daran, dass sich Schliephake als Widerpart von Creyenveldt sah, dem Vater von Kerstings Frau. Schliephake verdächtigte Creyenveldt des ideologischen Revisionismus, was er freilich so direkt nicht aussprach, vielmehr hinter Andeutungen, Mutmaßungen und rhetorischen Fragen vorsichtig verbarg. Creyenveldt galt als Autorität, immer noch, allein seiner Biografie wegen, doch bot er auch Angriffsflächen, da ihm die in der DDR erzeugte Bildkunst, wie er gelegentlich äußerte, überwiegend missfiel.
Dass Kersting über van de Velde arbeitete, war weithin bekannt. Kersting hatte Aufsätze, Radiobeiträge und einen Fernsehfilm zum Thema publiziert. Schliephakes Buch kam völlig überraschend, und Rezensionen rühmten es alsbald als Standardwerk. Das Leipziger Verlagshaus, mit dem Kersting in Verhandlungen stand, kündigte den Vertrag und überwies ein Abstandshonorar.
Dies alles geschah, als sich Kersting auch sonst in allerlei Schwierigkeiten befand. Er hatte ein Verhältnis mit Gwendolyn begonnen, einer aufstrebenden Künstlerin, sie malte Bilder in der naiven Manier des Zöllners Rousseau und der Grandma Moses. Aus Neugier hatte er eine ihrer Verkaufsausstellungen besucht, in einer privaten Galerie, die aus drei großen Zimmern einer etwas muffigen Berliner Altbauwohnung am Prenzlauer Berg bestand. Der Galeriebesitzer lebte von Käufern, die reiche Ärzte und ausländische Diplomaten waren. Der Klatsch unterstellte ihm ein intimes Verhältnis mit der Staatssicherheitsbehörde.
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