Der Doktor kehrte zu seinem Wagen zurück und schrieb den letzten Teil seines neuen Buches, das,Schwimmkunst der Tiere‘ hieß, noch einmal um. Sophie hatte ihm eine Menge hilfreicher Winke über gutes Schwimmen gegeben, so daß er dem Buch noch drei neue Kapitel hinzufügen mußte.
Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er gar nicht merkte, wie die Zeit verging, als plötzlich zwischen zwei und drei Uhr morgens der Nachtvogel Tuh-Tuh vor ihm auf dem Tisch saß.
„Doktor“, sagte Tuh-Tuh leise, um die anderen nicht aufzuwecken, „ich habe eine alte Bekannte von mir, eine Möwe, getroffen und ihr gesagt, daß ich jemanden suche, der eine Botschaft nach Alaska bringen kann. Als sie hörte, daß Doktor Dolittle mich schicke, sagte sie, sie würde es mit dem größten Vergnügen gerne selbst tun. Sie glaubt aber kaum, vor fünf Tagen zurück sein zu können, das heißt, wenn alles gut geht. Ich fliege Freitag wieder nach Bristol, und wenn sie dann noch nicht zurück ist, warte ich dort auf sie.“
Johann Dolittle freute sich sehr über Tuh-Tuhs Nachricht und erzählte Sophie am folgenden Tage, daß ihre Botschaft weitergegeben worden sei. Für den Augenblick konnte man nichts andres tun, als die Rückkehr der Möwe abzuwarten.
Am Donnerstag, einen Tag bevor Tuh-Tuh nach Bristol fliegen wollte, saß die ganze Gesellschaft in des Doktors Wagen um den Tisch und lauschte einer Geschichte, die Toby, der Kasperlehund, erzählte. Grade als Toby vor dem aufregenden Teil der Geschichte atemlos eine Pause machte, hörte man ein leises Klopfen am Fenster.
„Huuh“, rief Göb-Göb, „es spukt“, und krabbelte unter das Bett.
Johann Dolittle stand auf, zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster. Auf dem Fensterbrett stand eine müde und zerzauste Möwe, die mehr tot als lebendig zu sein schien. Der Doktor hob sie behutsam vom Fensterbrett und setzte sie auf den Tisch. Dann drängten sich alle um sie herum und starrten den erschöpften Vogel schweigend an, bis er zu sprechen anfing.
„Johann Dolittle“, sagte die Möwe endlich, „ich habe nicht auf Tuh-Tuh in Bristol gewartet, weil ich glaubte, Sie wollten alles gern so schnell, wie nur möglich, wissen. Die Robbenherde, zu der Sophie und ihr Mann gehören, befindet sich in einem sehr, sehr schlechten Zustand. Das kommt nur daher, weil Sophie gefangen genommen wurde und ihr Gatte Glitschi die Führerschaft verloren hat. In diesem Jahre hat dort der Winter früher eingesetzt, und was für ein Winter! Schneestürme, ungeheure Lawinen. Das Meer ist Monate vor der gewöhnlichen Zeit zugefroren. Ich selbst bin beinahe vor Kälte umgekommen, und Sie wissen: wir Möwen können eine sehr niedrige Temperatur vertragen.
Bei schlechtem Wetter ist nun die Führung für eine Seerobbenherde außerordentlich wichtig. Seerobben leben wie Schafe und alle wandernden Tiere in Rudeln. Und ohne einen großen, starken Anführer, der sie zu den offenen Fischplätzen und den geschützten Überwinterungsstellen führt, sind sie vollkommen hilflos und verloren. Seit Glitschi schwermütig geworden ist, haben sie einen Führer nach dem anderen gehabt, aber keiner von ihnen hat etwas getaugt. Kämpfe und kleine Meutereien haben die Herde dauernd erschüttert, Walrosse und Seelöwen treiben sie von den besten Fischplätzen fort, und die Eskimo-Robbenfänger töten sie rechts und links. Keine Seehundsherde kann sich lange gegen die Pelzjäger halten, wenn sie nicht einen guten Führer hat, der genügend Verstand besitzt, um sie vor Gefahr zu schützen. Glitschi war der beste, den sie je gehabt haben, und dazu stark wie ein Ochse. Nun tut er nichts, als auf einem Eisberg liegen und stöhnen und weinen, weil ihm seine Lieblingsfrau genommen worden ist. Er hat hundert andre Frauen, die ebenso hübsch sind wie Sophie, aber er sehnt sich nur nach ihr. Da haben Sie die Geschichte: die Herde zerfällt einfach! Man hat mir erzählt, unter Glitschis Führung sei sie die beste Seerobbenherde im ganzen nördlichen Polarkreis gewesen. Jetzt, dazu noch bei diesem strengen Winter, wird sie höchstwahrscheinlich ganz zugrunde gehen.“
Als die Möwe ihre Erzählung beendet hatte, herrschte eine Minute lang Schweigen im Wagen. Schließlich sagte Johann Dolittle: „Toby, gehört Sophie Blossom oder Higgins?“
„Higgins, Doktor“, sagte der kleine Hund. „Es ist so ähnlich wie bei Ihnen. Dafür, daß die Robbe bei der Vorstellung im großen Zirkus mitwirkt, braucht Higgins für seinen Stand nichts zu bezahlen und steckt das ein, was die Nebenschau einbringt.“
„Das ist durchaus nicht dasselbe wie bei mir“, rief der Doktor, „der große Unterschied ist, das Stoßmich-Ziehdich hält sich aus freiem Willen hier auf, während Sophie gegen ihren Willen im Zirkus festgehalten wird. Es ist eine wahre Schande, daß Jäger ins Eismeer hinauffahren und alle Tiere, die sie haben wollen, fangen, Familien zerstören und auf diese Weise auch jede Lebensgemeinschaft erschüttern dürfen — es schreit wahrhaftig zum Himmel!“
„Wieviel kostet eine Robbe?“ fragte er Toby.
„Das ist verschieden“, antwortete Toby. „Ich habe einmal Sophie sagen hören, Higgins habe sie in Liverpool von dem Mann, der sie fing, für vierhundert Schillinge gekauft. Bevor sie an Land kam, hatte man ihr schon auf dem Schiff Kunststücke beigebracht.“
„Wieviel ist in unsrer Sparbüchse, Tuh-Tuh?“ fragte der Doktor.
„Die ganzen Einnahmen von der vorigen Woche“, antwortete die Eule, „außer einem Schilling und drei Groschen. Für drei Groschen haben Sie sich die Haare schneiden lassen, und für einen Schilling haben Sie Göb-Göb Sellerie-Salat gekauft.“
„Was bleibt also übrig?“
Tuh-Tuh, die Rechenkünstlerin, legte ihren Kopf auf die Seite und schloß das linke Auge, wie sie es immer tat, wenn sie rechnete.
„Siebenundvierzig Schilling“, murmelte sie, „weniger einem Schilling und drei Groschen macht — macht fünfundvierzig Schilling und neun Groschen netto bar auf den Tisch.“
„Großer Gott!“ stöhnte der Doktor, „kaum genug, um ein Zehntel von Sophie zu kaufen. Ich möchte wissen, ob ich hier jemand anpumpen kann. Das ist das einzig Gute, wenn man ein Menschendoktor ist: als ich noch eine Menschenpraxis hatte, konnte ich mir wenigstens von meinen Patienten etwas borgen.“
„Wenn ich mich recht erinnere“, murmelte Dab-Dab, „haben Sie viel öfter Ihren Patienten etwas geliehen, als daß Sie sich etwas von Ihren Patienten geborgt haben.“
„Blossom würde sie Ihnen doch nicht verkaufen, selbst wenn Sie das Geld hätten“, sagte Sdhwizzel. „Higgins hat sich vertraglich verpflichtet, mit ihm ein ganzes Jahr herumzuziehen.“
„Da bleibt nur ein Ausweg übrig“, meinte der Doktor. „Diesen Leuten gehört die Robbe jedenfalls nicht. Sie ist eine freie Bewohnerin des nördlichen Eismeeres, und will sie dorthin zurückkehren, so soll sie es auch. Sophie muß entfliehen.“
Bevor an jenem Abend seine Tiere zu Bett gingen, ließ er sich von ihnen versprechen, der Robbe vorläufig nichts von den schlechten Nachrichten der Möwe zu erzählen. Es würde sie nur quälen, und ehe er sie nicht sicher zum Meere gebracht hätte, nützte es ihr doch nichts, davon zu wissen.
Dann besprach er bis zum Morgengrauen mit Matthäus den Plan für Sophies Flucht. Zuerst war der Katzenfuttermann sehr gegen diese Idee.
„Doktor“, sagte er, „wenn man Ihnen zu fassen kriegt, sperrt man Ihnen ein. Eine Seerobbe zur Flucht von ihre Besitzer zu verhelfen, wird man einfach Diebstahl nennen.“
„Daraus mache ich mir nicht so viel“, sagte der Doktor und schnippte mit den Fingern. „Man kann es nennen, wie man will. Man kann mich auch einsperren, wenn man mich kriegt. Wenigstens werde ich vor Gericht Gelegenheit haben, ein Wort für das Recht wilder Tiere einzulegen.“
„Man wird nich auf Ihnen hören, Doktor“, sagte Matthäus, „man wird Ihnen für einen gefühlsduseligen Narren halten. Higgins wird glatt gewinnen. Eigentumsrecht und all solch Zeug. Ich verstehe Sie Ihren Standpunkt schon, aber der Richter wird es nie nich tun, er wird Ihnen verurteilen, Higgins vierhundert Schillinge für seinen verlorengegangenen Seehund zu bezahlen, und wenn Sie nicht bezahlen können, kommen Sie ins Gefängnis.“
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