An diesem Morgen war es noch früh und Sophies Wärter frühstückte grade draußen auf den Stufen, als der Doktor in ihr Zelt kam. Ein ungefähr zwölf Fuß breiter Wasserbehälter war hier in die Erde eingelassen und um ihn herum eine Plattform mit einem Geländer gebaut, von dem aus die Besucher die Vorführungen sehen konnten. Sophie, eine schöne, fünf Fuß lange Alaska-Seerobbe mit glattem Fell und klugen Augen, wälzte sich trübsinnig im Wasser. Als der Doktor mit ihr in ihrer eignen Sprache zu sprechen begann und sie erkannte, wer ihr Besucher war, brach sie in Tränen aus.
„Was fehlt dir denn?“ fragte Johann Dolittle.
Die Robbe fuhr fort zu weinen und antwortete nicht.
„Beruhige dich“, sagte der Doktor, „nur keine Aufregungen! Bist du noch krank? Ich glaubte, du wärst wieder ganz gesund.“
„Ach ja, ich hab mich längst wieder erholt“, schluchzte Sophie, /„ich hab nur Magenschmerzen gehabt. Wir werden hier mit faulen Fischen gefüttert.“
„Was fehlt dir sonst?“ fragte der Doktor. „Warum weinst du denn?“
„Ich weine vor Freude“, sagte Sophie. „Als Sie hereinkamen, dachte ich grade, der einzige Mensch in der ganzen Welt, der mir helfen kann, ist Johann Dolittle.“
„Wobei soll ich dir helfen?“ fragte der Doktor.
„Ach“, rief Sophie und brach wieder in Tränen aus, „ich weine nur, weil ich so glücklich bin. Als Sie hereinkamen, habe ich Sie zuerst für einen gewöhnlichen Besucher gehalten, aber nach Ihrem ersten Wort Robbensprache — und dazu noch Alaska-Dialekt — wußte ich, wer Sie waren: Johann Dolittle, der einzige Mensch in der ganzen Welt, mit dem ich sprechen wollte! Das war für mich zuviel, ich — —“
„Nun, nun“, sagte der Doktor, „brich nur nicht gleich wieder zusammen. Sag mir, was dir fehlt.“
„Gern“, antwortete Sophie.
In diesem Augenblick hörten sie draußen das Klappern eines Eimers. „Pst“, flüsterte der Doktor schnell. „Der Wärter kommt. Fang wieder mit deinen Kunststücken an! Man darf nicht erfahren, daß ich die Tiersprache spreche.“
Als der Wärter eintrat, um den Boden zu scheuern, hüpfte und tauchte Sophie ausgelassen für ein Publikum, das aus einem einzigen kleinen, dicken, ruhigen Mann mit einem zerbeulten, aus der Stirn gerückten Zylinderhut bestand. Bevor der Wärter sich an seine Arbeit machte, warf er dem Doktor einen Blick zu und entschied, daß dieser eine ganz gewöhnliche Person und nichts Besondres sei.
Sobald der Mann mit dem Aufwischen fertig und wieder verschwunden war, fuhr Sophie fort:
„Als ich krank wurde, befanden wir uns grade in Hatley am Meer, ich und mein Wärter — er heißt Higgins — blieben zwei Wochen lang dort, während der Zirkus ohne uns weiterzog. In Hatley gibt es einen Zoo — nur einen ganz kleinen — mit künstlichen Teichen voll Seehunden und Ottern. Eines Tages kam Higgins mit dem Wärter dieser Robben ins Gespräch und erzählte ihm, daß ich krank sei. Und da sie glaubten, mir würde etwas Gesellschaft gut tun, steckten sie mich zu meiner Erholung in den Teich zu den andern Seerobben. Unter diesen befand sich eine alte Robbe, die aus demselben Teil der Behringstraße stammte wie ich. Von ihr erfuhr ich ein paar schlimme Neuigkeiten aus meiner Heimat. Mein Gatte war seit meiner Gefangennahme untröstlich und wies alle Nahrung zurück. Früher war er der Anführer der Herde gewesen, aber nachdem man mich von seiner Seite gerissen hatte, grämte er sich so, daß er vollständig abmagerte, und ein anderer Seehund statt seiner zum Führer gewählt wurde. Die Robbe glaubte nicht, daß er jetzt noch am Leben wäre“, und Sophie begann wieder, leise vor sich hinzuschluchzen.
„Ich kann es gut verstehen“, fuhr sie fort, „wir haben so sehr aneinander gehangen. Und obwohl er groß und stark war und kein andrer Hund der Herde je wagte, mit ihm Streit anzufangen, ohne mich war er nur ein kleines, hilfloses Kind. In allem hat er sich vollkommen auf mich verlassen. Und jetzt — jetzt weiß ich nicht, was mit ihm ist. Es ist schrecklich — einfach schrecklich!“
„Einen Augenblick, aber hör erst zu weinen auf“, sagte der Doktor. „Was müßte denn deiner Meinung nach geschehen?“
„Ich müßte zu ihm zurückkehren“, sagte Sophie und hob sich mit ausgestreckten Flossen aus dem Wasser. „Ich müßte bei ihm sein. Er ist der wahre Führer der Herde, und er braucht mich. Ich hatte schon gehofft, in Hatley zu entkommen, aber leider hatte ich keine Gelegenheit.“
„Hm“, murmelte der Doktor, „bis zur Behringstraße ist es sehr weit, wie in aller Welt willst du dahinkommen?“
„Grade deswegen habe ich mit Ihnen sprechen wollen“, sagte Sophie. „Zu Lande reise ich natürlich sehr langsam. Aber“, fügte sie mit einem mächtigen Schlage ihres Schwanzes hinzu, so daß die Hälfte des Wassers aus dem Bassin schwappte, „bin ich erst einmal im Meere, schwimme ich, eins, zwei, drei, nach Alaska.“
„Ja, das ist wahr“, stimmte der Doktor zu, als er sich das Wasser aus den Schuhen schüttelte. „Ich sehe, du bist wirklich eine ausgezeichnete Schwimmerin. Wie weit ist es ungefähr von hier bis zur Küste?“
„Ungefähr hundert Meilen“, sagte Sophie. „O weh, o weh! Mein armer Glitschi! Mein armer Glitschi!“
„Wer ist arm?“ fragte der Doktor.
„Glitschi“, antwortete Sophie, „so heißt nämlich mein Mann. Er hat sich in allen Dingen stets auf mich verlassen, der arme dumme Glitschi. Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?“
„Ja, ja“, sagte Johann Dolittle, „es ist keine einfache Sache, dich bis zum Meer durchzuschmuggeln. Ich will nicht sagen, es wäre unmöglich, aber man muß sich die Sache erst einmal gut überlegen. Vielleicht kann ich dich auf die eine oder andre Weise in aller Öffentlichkeit befreien. Inzwischen werde ich deinem Gatten durch einen Vogel Botschaft senden, es gehe dir gut, und er solle aufhören, sich zu grämen. Derselbe Bote kann uns dann gleich sagen, wie es ihm geht. Also Kopf hoch! Es kommen Leute, die deine Kunststücke bewundern wollen.“
Eine Lehrerin mit einem Haufen Kinder trat, von Wärter Higgins begleitet, ein, und zugleich verließ ein kleiner, schmunzelnder, dicker Mann die Bude. Bald lachten die Kinder entzückt über die Späße des großen Wassertiers. Higgins stellte fest, Sophie müsse sich nun wieder vollkommen wohl fühlen, er hatte sie noch nie so strahlender Laune gesehen.
EINE BOTSCHAFT AUS DEM NORDEN
Spät am Abend ging der Doktor mit Tuh-Tuh noch einmal zur Robbe.
„Diese Eule“, sagte er, als er an Sophies Schwimmbassin stand, „ist eine Freundin von mir. Bitte beschreibe ihr, wo man in Alaska deinen Gatten finden kann. Sie fliegt dann zur Küste und gibt ihre Botschaft an die Möwen weiter, die nach Nordwesten ziehen. Darf ich euch miteinander bekannt machen: Sophie, dies ist Tuh-Tuh, einer der klügsten Vögel, die ich kenne. Tuh-Tuh ist eine besonders gute Rechnerin.“
Die Eule blieb auf dem Geländer sitzen, während Sophie ihr genau auseinandersetzte, wie man Glitschi erreichen könne und eine lange, liebevolle Botschaft für ihren Gatten herunterleierte. Als sie damit fertig war, sagte Tuh-Tuh:
„Ich fliege nach Bristol, Doktor, das ist die nächste Küstenstadt, dort halten sich immer eine Menge Möwen im Hafen auf. Ich werde schon eine finden, die die Botschaft übernimmt und sie an die richtige Adresse befördert.“
Der Doktor war damit einverstanden, und da alles so schnell wie möglich gehen sollte, bat er sie, einen Seevogel ausfindig zu machen, der aus Freundlichkeit für ihn die ganze Strecke übernehmen würde.
„Ist recht, Doktor“, sagte Tuh-Tuh und bereitete sich auf die Reise vor. „Lassen Sie bitte das Fenster offen, damit ich wieder hereinkommen kann. Ich glaube, ich werde kaum vor zwei Uhr morgens zurück sein. Bis dahin auf Wiedersehn!“
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