1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Seitdem ging er überhaupt nicht mehr hin. Aber nicht nur deswegen. Er würde dem nicht sagen, warum er damals so nass gewesen war. Was hätte das gebracht? Nichts! Es war ja ganz einfach: er wollte das alles nicht noch einmal mitmachen. Seine Alten störte das alles nicht, denen war’s egal, was er machte, ob er da hin ging oder nicht. Zeugnisse waren für die „Quatsch und Blabla.“
„Wat willste mit dem Scheiß? He? Hab ich wat davon, dat ich ganz gut war inne Schule? Nee! Interessiert doch keine Sau. Malochen musse können, dat is allet. Nen Job musste kriegen. Die fragen dich nich, ob de rechnen kannst, die wollen deine Muckis sehen“, hatte Mutters Mann – also die Drecksau – ihn belehrt, nachdem er den dritten Brief von der Schule gelesen hatte.
Janosch ging auch nicht mehr in die Schule. Das heißt, er brauchte da nicht mehr hin, weil er schon fünfzehn war. „Hab aber auch früher aufgehört; einfach so. Bin nicht mehr hin gegangen, als ich genug wusste. Schulabbruch“, hat Janosch zu ihm gesagt und fett gegrinst. „Was die mir fürs Leben beibringen wollten, das brauche ich nicht. Okay? Was ich fürs Leben brauche, das wissen die nicht. Fakt! Eine Arbeitsstelle? Mann! Mich will doch keiner, wenigstens nicht als Azubi. Nur für billige Scheißarbeit. Auch Fakt!“
„Hast du nicht genug Muckis?“
„Wozu die? Mann, die haben heute Maschinen, Computer und Automaten. Da brauchste keine Muckis. Wer erzählt so einen Scheiß?“
„So? Was wolltest du denn werden?“
„Bänker. Klasse Job. Kriegst ’nen eigenen Wagen, jede Menge Kohle, bist immer super angezogen und wenn du morgens kommst, reißt dir ein Typ in Uniform die Tür auf. Deine Tussi, also die, die alles für dich schreibt, die sitzt auf deinem Schoß und du brauchst nix zu tun, außer … Na ja, was so eine eben gerne hat.“
„Und? Hast du dich beworben?“
„Na klar! Bei neunundneunzig Banken. Bis nach Frankfurt. Echt! – Okay, nur bei einer. War aber nur einer von vielen, denk ich mal und vielleicht waren da bessere Typen, als ich es bin. Mit Abi und so. Aber nicht mal geantwortet haben die Arschlöcher. Regel fürs Leben: Lernen lohnt nicht.“
„Du redest wie mein Alter“, hat er dem Janosch gesagt. „Nur das mit den Muckis, das weiß der besser.“
„Blödmann! Hab eben meine Erfahrungen. Okay. Kannst immer zu mir kommen, wenn du was nicht weißt. Dein Janosch weiß wirklich alles – also fast alles. Außer bei Mathe und Deutsch kenn ich so ziemlich alles, was mal wichtig werden könnte. Okay?“
Er kannte Janosch jetzt schon lange. Zuerst waren sie keine Freunde; sie wohnten nur im selben Plattenbau. Der grinste ihn immer an, wenn er ihn sah – freundlich – nicht so blöde wie die anderen. Er wusste noch genau, wie er entdeckte, dass er ihn okay fand. Damals hat Janosch einem von der Gang eine Ohrfeige verpasst, weil der einem Mädchen in die Brust gekniffen hat. Der ist danach beleidigt abgezogen und hat Drohungen ausgestoßen. Komisch war, dass die von der Gang den Janosch nicht zusammengedroschen haben. Das wäre nämlich typisch gewesen. Zehn gegen einen, das fanden die ziemlich normal. Der Janosch – damals wusste er noch nicht, dass der so hieß – hat sich zu dem Mädchen umgedreht und nachgedacht. Das hat er sofort gesehen. War ja auch für jeden erkennbar, dass der über was nachdachte. Seine pechschwarzen Augen hat er gerollt und mit beiden Ohren gewackelt. Darüber konnte das Mädchen schon wieder lachen. Janosch hat wohl übers Nachdenken was entdeckt. Er hat in seiner Hosentasche gewühlt und einen langen Kaugummi raus gezogen, dem Mädchen in die Hand gedrückt und „Schmerzpflaster!“ gesagt. Da hat er es gewusst: Der Junge sollte sein Freund werden. Nicht wegen dem Kaugummi. Wegen all dem anderen; den wackelnden Ohren und so. Sein Freund wurde er wirklich. Aber ganz von alleine; als er das Mal bei ihm entdeckt hat.
Wenn Janosch ein Problem hatte, dann dachte er lange darüber nach, immer auf dieselbe Art. Genau so wie damals bei dem Mädchen mit der schmerzenden Brustwarze. Wenn dann die Augen rollten und die recht großen Ohren kreisten, dann könnte er fast lachen. Fast.
Die anderen Jungen aus dem Plattenbau waren alles Drecksäcke. Entweder war man stark und hatte schon mindestens einen verprügelt, hatte richtig geklaut, Bullen mit Steinen beworfen, ein paar Mädchen begrapscht – oder man war eine Null für die.
„Krüppel! Komm sofort her, du Behindi“, riefen sie, wenn sie was von ihm wollten; meistens sollte er dann etwas für sie besorgen, wozu sie selber keine Lust hatten. Oder sie brauchten ihn als Ball. Dann rannte er; so schnell er konnte und ließ sich vorläufig nicht mehr sehen. Mit ihm reden oder spielen wollten sie nie. Als er in die Bad Place Gang aufgenommen werden wollte, haben die sich auf dem Boden gewälzt vor Vergnügen und gegrölt wie die Affen im Zoo. „Sind wir eine Verwahranstalt?“, hat Dirk, ihr Anführer, damals geschrien. „Oder eine Schule für Behinderte? Hau ab du Behindi und lass dich nur noch blicken, wenn wir dich rufen.“
Hat er auch nie mehr gewagt. Was sie mit Krüppel und Behindi meinten, das wusste er, das war klar. Das genau hat seine Lehrerin auch zu ihm gesagt, als er die Rechenaufgaben nicht kapierte. Die Schüler seiner Klasse haben gekreischt und mit den Fäusten auf die Tische gehauen. „Nimm mal deine Finger und zähle bis zehn. Laut! – Ach, ich vergaß! Du kannst ja nur bis acht zählen“, sagte sie und machte es ihm vor, indem sie ihre Hände vor die Augen hielt und zwei Finger wegknickte.
Er wollte nur noch weg. Deshalb und wegen der anderen Sachen, die sie mit ihm machten. Einfach weg. Da draußen unter der Bundesstraßeunterführung sitzen, wo die Luft zitterte, weil die schweren Laster ununterbrochen über den Beton donnerten. Nichts denken, an nichts und an niemanden. Oder eben unter dem Brombeerstrauch hocken. Da konnte er sitzen und ohne Gedanken in den Dreck schauen. Da lachte keiner über ihn. Am liebsten aber floh er einfach zu seinem Königsstern. Da war alles gut.
An dem Tag, als Janosch in seinem Gesicht das Mal gesehen hat, sind sie also Freunde geworden. Er hat es dem Janosch nie gesagt, dass er das schon vorher gewusst hat – wegen dem weinenden Mädchen hat er es gewusst, ganz plötzlich und ganz sicher. Sie wurden Freunde, ohne dass es einer jemals ausgesprochen hätte. Danach hat er Janosch alles gesagt. Sie haben oft drüber geredet, haben überlegt, wie sie es machen sollten. Weg von den Alten, selbst bestimmen, was okay und was Scheiße war. Eigentlich hat hauptsächlich Janosch gesprochen, aber ab und zu konnte er auch was dazu sagen.
„Wenn ich bloß stark wäre“, hat er geklagt und seine dürren Arme betrachtet. „Wenn ich kein Krüppel wäre und alle Finger hätte – so wie du.“
Einmal hat er der Versuchung nicht widerstehen können und dem Janosch davon erzählt, dass da einer in seinem Kopf ist, der ‚Andere’, der ihm Sorgen macht. Aber nur so ungefähr hat er’s ihm gesagt und es gleich bereut. „In meinem Kopf dreht sich immer alles und schlecht ist mir; ich kann gar nichts denken, wenn ich bei dem Dreckskerl war. – Immer öfter sind da Gedanken in meinem Kopf, die nicht mir gehören. Da spricht ein ‚Anderer’ immer Sachen, die ich nicht meine und die ich nicht will.“
„Das sagste besser nicht laut. Versteht jeder falsch. Die stecken dich in Rostock in ein geschlossenes Heim. Da kriegste Pillen. So viele, dass du nicht mehr weißt, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist.“
„Ich meine ja nur. War nicht echt so gemeint. Ich meinte … Ach Scheiße. Ich habe immer Angst. Immer.“
„Pass auf!“, hat der Janosch gesagt, seine dunklen Augen gerollt und dermaßen mit den großen Ohren gewackelt, dass Nick lächeln musste. „Also: Im Janoschbuch steht: ‚Wenn man einen Freund hat, braucht man sich vor nichts zu fürchten!’ Du hast jetzt einen. Okay? Wenn du bei diesem Stinker bleibst, bist du bald am Bahnhof. Okay? Dann kriegst du Aids, dann biste weg, kaputt, tot. Okay? Mit zwanzig oder so! Biste so blöd? Nee, biste nicht. Also? Wir müssen was machen.“
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