1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 „Wir, wir! Was willst du denn dabei machen? Was geht dich das denn an? Dir geht’s doch gut. Keiner bestimmt über dich, keiner verkauft dich, keiner missbraucht dich. Keiner lacht über dich, weil du was Schwieriges nicht verstehst. Also?“
„Okay. Stimmt schon. Aber eigentlich krepier ich hier auch jeden Tag ein Stück, ein ganzes Stück. Ich bin älter als du und ziemlich helle. Ich kapier, wo’s hinläuft, wenn ich nichts mache – und das ist schlimmer, als wenn ich’s gar nicht merken würde. Siehst du nicht, wo die alle landen? Alle die hier in den Blocks leben; dieser Dirk und seine Bad Place Gang. Die Alten mit den Armen auf der Fensterbank. Die sind doch schon tot, bei lebendigem Leibe tot! Die Jungen landen im Knast oder auf dem Müll. Als Leiche! Und ich genau wie die! Kapiert?“, sagte er leise und rollte weder mit den Augen, noch wackelte eines seiner Ohren.
So war die Lage. Deshalb überlegten sie gemeinsam, machten Pläne, über die sie am nächsten Tag den Kopf schüttelten. Trotzdem: Nicht alles wollte er dem Janosch sagen. Etwas gehörte nur ihm und das musste er wie einen Schatz hüten. Er war sicher, dass alles aus war, wenn er es erzählte. Es gab zwei Sachen, die er einfach nicht sagen durfte – nur denken. Das, was er sich wirklich wünschte, was er träumte, was er fühlte, wenn er alleine war und im nachtschwarzen Himmel seine Sternenfreunde suchte, das gehörte nur ihm. Wenn er’s sagen würde, war’s kaputt.
Alles hatte irgendwie mit diesem Stern zu tun. Auch das andere. In ihm zitterte es und er verspürte eine Sehnsucht, die er nicht fassen, nicht in Worte kleiden konnte. Schon vor langer Zeit, an dem Abend, als die aus seiner Klasse das zum ersten Mal mit ihm gemacht haben, da hat er sich auf die verwilderte Wiese gelegt und den Himmel beguckt. Ohne Gedanken, nur traurig und ohne Freude – auf was auch? Da hat er lange gelegen, so lange, bis aus der Dämmerung und dem blassen Himmel eine Nacht und ein tiefschwarzes Gewölbe geworden war. Als hätte sie jemand angeknipst, haben plötzlich unzählige Sterne, kleine und große, blasse und helle, den Nachthimmel gefüllt. Es flackerte und flimmerte, es glitzerte und leuchtete. Tatsächlich, so hat er damals gedacht, hat er die vorher noch nie richtig gesehen. „Hab ja auch noch nie so lange und so platt auf der Wiese gelegen und das da oben angeschaut.“
Zuerst hat er gedankenlos die Sterne betrachtet, hat sich festgeklammert an der Stelle, wo sie am hellsten leuchteten, weil die Straßenlampen sie nicht verblassen ließen. Ganz besonders einer, der flimmerte und blitzte, hat es ihm angetan. Er merkte sich die Position, prägte sich ein, wie die benachbarten Sterne standen und wusste, dass er diesen Stern immer wieder finden würde. Nur dieser Stern wurde ihm wichtig; die anderen dienten nur noch als Suchhilfe.
„Als wenn er mir Signale senden würde. Vielleicht funkt der ja wirklich was. Kann doch sein, dass da oben welche sind, die mich sehen und mir was sagen wollen. Echt möglich. Weiß doch keiner.“
Weil’s keiner wissen konnte, haben sich seine Gedanken auf den Weg gemacht, sind ins All gesaust, haben diesen Stern ausgesucht und sind auf ihm gelandet. Es war der am stärksten leuchtende Stern, und er dachte sich als Geist, der schnell wie ein Gedanke zu ihm fliegen konnte. Er hatte keine Ahnung von Lichtgeschwindigkeit, hatte nie etwas von spezieller oder allgemeiner Relativitätstheorie gehört. Er kannte nicht den Unterschied zwischen Sonnen und Planeten. Alles, was da über ihm hing, war ein mystisches, ein wunderbares Geheimnis. Dort war einfach alles möglich; wirklich alles. So ließ er alles denkbar und wahr sein.
So fiel es ihm immer leicht, sich in die Schwärze zu stürzen, sich auf den Weg zu diesem Stern zu machen, von den geheimnisvollen Wesen zu träumen, die ihn als Botschafter der Erde freudig empfingen. Dazu musste er sie erschaffen, die Wesen, die seine Freunde werden sollten. Wie konnten sie aussehen? Ihm fehlte die Fantasie; er hatte nie Science Fiction Romane gelesen. So dachte er sich die Bewohner seines Sterns als Menschen; nur freundlicher und liebenswerter. Sie waren glücklich, lächelten und lachten wie die Touristen in Warnemünde. Das Beste aber war, dass alle, wirklich alle, so waren wie er: Krüppel. Noch besser: Sie hatten sogar an beiden Händen nur drei Finger – und sie waren trotzdem geschickt. So flink mit ihren sechs Fingern waren die, wie die geschicktesten Jungen auf der Erde – viel besser jedenfalls als er. Sie lachten ihn nicht aus, sahen ihn an, als wäre er einer der ihren.
Eines Tages beschaffte er ihnen einen König. Er musste unbedingt ein guter Herrscher sein und auf einem Thron sitzen. Denn das war mal klar: Ein solcher Stern mit einem so guten Volk, der brauchte einen König. Ein Präsident oder so was, das wäre doch zu blöde; eben ziemlich irdisch, also Scheiße. Könige, von denen hatte er in der Schule gehört, das waren besondere Menschen. Der König, den er immer zuerst besuchte, wenn er zum ‚Königsstern’ floh, zeigte ihm, dass man sogar ein ganzes Sternenvolk regieren konnte wenn man nur sechs Finger hatte – und dass man damit kein Krüppel war.
„Schau! Den kleinen Finger und den Ringfinger – so nennt ihr den doch? – braucht man nicht. Was soll dieser Winzling denn tun, he? Da wir nie heiraten, brauchen wir auch keinen Ringfinger. So ein Quatsch. Heiraten ist bescheuert. Mit dem Zeigefinger drohe ich den Übeltätern und bohre in der Nase.“ Dann hat der König gelacht und es vorgemacht. Da hat er auch lächeln müssen und es ihm gleich getan; hat ja keiner gesehen.
„Mit dem langen Finger male ich, gewinne jeden Wettkampf beim Fingerhakeln und steche zu, wenn wir den Fingerkampf kämpfen. Der Daumen erst! Ha! Damit greife ich, klammere mich fest, drücke auf den Klingelknopf, quetsche Fliegen und Mücken platt und kratze mir den Bart.“ All das zeigte der König, während er sprach und er hat es nachgemacht und sich froh und leicht gefühlt.
„So! Alle drei Finger zusammen können die Gabel, das Messer, den Löffel und den Bleistift halten. Fehlt mir was? Nein! Fehlt dir was? Ach wo! Du hast sogar diese zwei überflüssigen Finger an der rechten Hand. Na ja. Du bist trotzdem ein ganz normaler Königssternfreund.“
So dachte er es sich. Immer länger und intensiver träumte er vom Leben auf dem geheimnisvollen Stern, erfand Fahrzeuge, die lautlos daher rollten, Flugzeuge, die jeder fliegen konnte, wenn er nur wollte. Der König und sein Volk hörten sich an, was er ihnen erzählte, wenn ihn Kummer und Schmerzen quälten. Sie lauschten, nickten voller Verständnis, berieten sich und schlugen ihm was vor, was ihm helfen sollte. Immer, wenn er sie besucht hatte, fühlte er sich leicht wie eine Feder und konnte alles wegstecken, was ihm passiert war. Sogar das, was die in der Schule mit ihm machten und auch das mit dem Stinker. Das besonders.
Die Bewohner sahen eigentlich aus wie die Menschen auf der Erde, das wollte er so. Nur: Die Jungen waren kleiner und schlanker als er, die Erwachsenen lächelten ständig und grüßten ihn freundlich. Die Mädchen waren alle hübsch, sahen aus wie Pat. Alle, wirklich alle, Mädchen waren blond und trugen Pferdeschwänze, die bei jeder Bewegung wippten und sich im Wind auffächerten. Ihre Röcke waren noch kürzer als der von Pat und deshalb konnte er die wunderbar schlanken Beine bis oben hin sehen. Das war schon wichtig, denn er liebte schöne Mädchenbeine, solche, wie Pat sie hatte.
Pat! Sie lebte im gleichen Wohnblock, gehörte keiner Clique an, war so schön, dass ihm kein Wort dafür einfiel, hatte noch nie mit ihm gesprochen und war trotzdem seine Liebe. Aber das wusste nur er; nichts davon ahnte Janosch. Das, genau das, war es, was er – genau wie die Sache mit den Sternenfreunden – dem Janosch nie sagen würde: Er liebte Pat! Die würde er einmal heiraten, hat er gedacht, als er sie zum ersten Mal sah. Das war lange bevor das mit dem Stinker passierte. Seitdem dachte er nicht mehr daran, jemanden zu heiraten, auch nicht Pat. Aber im Kopf blieb sie erhalten, blieb seine Liebe. Seine erste Liebe. Die schöne Pat.
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