„Das ist der Wind“, sage ich.
„Komisch.“ Frida knabbert an einem Nagel. „Es hat nicht geweht, als wir hergegangen sind. Es hat nur ein bisschen geschneit.“
„Aber jetzt windet es. Okay, Konzentration.“ Ich bringe den Zeiger zum Zittern. „Nächste Frage. Bist du eine gute Seele?“
„Als ob der antworten würde auf so eine …“
Isak verstummt mitten im Satz. Der Zeiger bewegt sich. Langsam gleitet er zum Nein .
Frida zieht die Luft ein, aber mehr hört man nicht. Alle starren auf das Brett. Es ist, als ob niemand zu atmen wagt. Oder zu blinzeln. Sich einen Millimeter zu bewegen. Mein Puls schlägt in den Schläfen.
„Wie heißt du?“, flüstere ich.
Das Brett buchstabiert, einen Buchstaben nach dem anderen.
ISABELLE.
„Äh …“ Isak räuspert sich. „Nicht witzig. Wer hat das gemacht?“
„Niemand würde Amir das antun und er würde das selber nicht schreiben.“ Jamila nimmt ihren Finger weg. „Hallo, Amir? Wie geht’s dir?“
„Oh my God“, murmelt Frida.
Ich tue alles, um keine Gefühle zu zeigen. „Leg den Finger zurück, Jamila. Du darfst den Kreis nicht unterbrechen.“
Sie gehorcht. „Aber wie geht’s dir?“
„Ist schon okay.“
Obwohl es überhaupt nicht okay ist. Denn ich weiß, dass es stimmt, was sie gesagt hat. Niemand würde mir das antun.
Niemand – von uns .
Wir haben nicht so eine Art von Umgang. Wir kennen uns seit dem Gymnasium und respektieren die Gefühle der anderen, was Ex-Partner angeht. Es gibt Namen, die wir nicht nennen, und Isabelle ist einer davon.
Ich lege mehr Gewicht auf meinen Finger, befeuchte meine Lippen und schiele zu den anderen. Es sieht aus, als wüsste ich, was ich tue. „Du meinst, dass du Isabelle heißt?“
Nein.
Haben wir falsch gelesen?
ANASTASIA.
ERIKA.
SANDRA.
„Verdammt.“ Isaks Hand zittert. „Der zählt alle deine Ex-Freundinnen auf.“
Es braust in meinen Ohren. Pocht. Pocht. Was passiert hier?
GABRIELLA .
Jamila blickt auf. „Wer ist das?“
„Nur eine Sommeraffäre.“ Ich runzle die Augenbrauen. „Isak, du bist der Einzige, der davon wusste.“
„Ich schwöre, ich beweg das nicht …“
Es kratzt am Fenster. Ich sehe hin. Schwarz. Aber da draußen kann nichts sein, ich wohne im dritten Stock. Kein Baum oder Ast kommt ans Fenster ran. Nur an die Fassade ein paar Meter weiter unten.
Bäm! Die Weihnachtslichter gehen aus.
„Himmel!“, ruft Isak.
Ich sehe mich schnell um. „Im Flur brennt noch Licht.“
Aber das Licht flackert. Im Wohnzimmer ist es dunkel.
Frida jammert. „Ich will nicht mehr spielen.“
„Ach, bleib ganz ruhig.“ Jamila bewegt sich etwas zur Seite. „Du drängelst.“
„Mach ich nicht.“
„Was?“
„Ich habe mich nicht bewegt .“
„Ruhe! Alle Finger zurück. Schnell!“ Ich öffne den Mund, um die Seele, oder was es auch immer ist, zu bitten zu gehen. Kann das aber nicht sagen, weil der Zeiger sich wieder bewegt.
TOT.
Frida springt auf und rennt in den Flur. „Ich gehe nach Hause, das halte ich nicht aus!“
Die Lampe im Flur geht aus. Jetzt brennt nur noch in der Küche Licht. Frida reißt die Wohnungstür auf und verschwindet.
„Jaha.“ Jamila steht auf. „Wir gehen dann auch. Ich sollte ihr hinterherrennen. Aber es war nett und alles.“
„Wir müssen das Spiel beenden, ihr könnt nicht einfach … Alle müssen dabei sein, wenn wir den Zeiger zum Auf Wiedersehen ziehen.“
„Aber wir sind jetzt nicht mehr alle da. Frida ist draußen und schreit auf der Straße rum.“
„Aber …“
Isak legt mir eine Hand auf die Schulter. „Bist du jetzt gläubig? Hör auf damit.“
„Wir würdest du erklären, was passiert ist?“
„Weiß ich doch nicht, aber …“
„Tschüss!“ Jamila wirft die Tür hinter sich ins Schloss.
„Du nimmst das Brett mit.“ Ich trete einen Schritt davon zurück. „Isak, ich will das nicht haben. Kannst du es mitnehmen und in den nächsten Mülleimer werfen?“
„Also …“
„Es waren nicht deine Ex-Freundinnen, die es aufgezählt hat.“
„Nee. Okay.“ Er zuckt mit den Schultern und lächelt breit. „Ich kümmere mich drum.“
***
Einige Stunden, nachdem alle gegangen sind, fühlt sich wieder alles normal an. Genauso leer und einsam. Fünfunddreißig und eine Junggesellenbude. Fünfunddreißig und keine Kinder, keine Frau, keine Freundin.
Es wird mir umso deutlicher, wenn ich die alten Freunde treffe. Jamila und Frida, die schon in der Schule zusammenkamen und jetzt gemeinsam zwei Kinder adoptiert haben. Und Isak, der auf biologischem Weg Kinder bekommen und außerdem noch geheiratet hat.
Ich sehe zur Schlafzimmerdecke hoch. Die Umrisse der ausgeschalteten Lampe sind deutlich in der Stille zu erkennen. Das Laken fühlt sich am Rücken kalt an und reicht nach altem Bettzeug. Früher duftete es nach Waschmittel und Apfelsinen. Und das Bettzeug war nie kühl.
Vergiss sie.
Vielleicht sollte ich mir ein Haustier anschaffen. Obwohl ich eigentlich allergisch bin. Etwas, das ihr egal war. Das Einzige, was sie wirklich liebte, war der blöde Hund. Skipper.
„Miau.“
Ich erstarre. Setze mich langsam auf und sehe zur Türöffnung. Ein Schatten läuft vorbei.
„Wer ist da?“
Als ob die Katze antworten würde.
Ich werfe die Decke weg, setze die Füße auf den kalten Holzboden und schleiche mich zur Tür, die halb zum Wohnzimmer geöffnet ist. Als ich durch den Spalt blicke, kann ich nichts Merkwürdiges entdecken. Nicht einmal, als ich mich mitten ins Zimmer stelle, wo wir vorhin noch gespielt haben. Nicht einmal, als ich mich einmal um mich selbst drehe.
„Hallo?“, versuche ich.
Der Wind antwortet am Haus. Ich drehe mich um und will zurückgehen. Die Schlafzimmertür ist zu. Zu? Ich muss wohl mit dem Fuß drangekommen sein … Aber sie ist ganz zu, als ob sie jemand vorsichtig den Griff runtergedrückt und wieder losgelassen hat.
Außerdem scheint Licht unter der Tür durch.
Ich hab es doch nicht angemacht, als ich rausging?
Es ist das Spiel. Es hat mich mehr aufgewühlt, als ich dachte.
Ich gehe zur Tür und greife nach dem Griff. Drücke ihn herunter. Öffne die Tür. Sie knarrt und öffnet sich. Ich betrachte das Schlafzimmer. Alles sieht aus wie immer.
Außer, dass das Ouijabrett auf dem Bett liegt.
***
Das Sofa ist unbequem und ich muss meine Position mehrfach verändern. Das Handy lockt mich – an Isak schreiben und ihn fragen, was zur Hölle er vorhat. Hat er das Brett nicht mitgenommen? Ich habe ihn es mitnehmen sehen. Wie ist es hier gelandet?
Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern. Ich habe morgen früh ein Meeting mit einem Kunden und darf nicht wieder zu spät kommen. Das Sofa wird bequemer. Die Wolldecke ist warm und wird zu streichelnden Händen. Es ist ein Traum, den man als Traum erkennt. In dem alles unscharf, heiß und kribbelnd ist. Alles kann passieren, aber ich bin in Sicherheit.
Schlanke Finger bewegen sich den Brustkorb hinauf. Der weiche Körper einer Frau räkelt sich in meinen Armen und stöhnt. Es blitzt in meinem Sack. Alle Sinne werden wach. Die Frau öffnet die Lippen und schmeckt meinen Atem mit ihrer Zunge. Sie riecht gut. Schmeckt gut. Süß und sauer gleichzeitig, als ob sie eine Zitrone gegessen hätte. Ihre Haut ist weich und warm an den Fingerspitzen und ich frage mich, wie ein Traum sich so lebendig anfühlen kann. Es ist lange her, dass ich mit einer Frau geschlafen habe, lange her, dass ich die Haut einer anderen an meiner gespürt habe.
Ich sauge ihre Lippen in meinen Mund, streiche mit der Hand über ihre schönen Haare und stoße gegen ihre nasse Muschi. Langsam führe ich die Finger nach unten, immer weiter, bis ich zu ihrer Hüfte komme. Sie keucht etwas Unhörbares, als ich eine Hand zwischen unsere verschwitzten Körper stecke. Ihre Schamhaare kitzeln an meinem Handrücken. Ich drehe die Finger, sodass ich sie erreiche, stecke sie hinein und höre sie seufzen. Die Wärme umschließt mich. Es schmatzt in ihr, so nass ist sie. Das Sofa knackt unter uns und ich schaffe es, mich zu erinnern, dass ich das hier kann. Es ist zwar wirklich lange her, aber es ist ein bisschen wie Radfahren. Wenn man es einmal kann, verlernt man es nicht. Es fühlt sich richtig an.
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