*
Das Schiff und alles auf ihm ist wie mit Greisenhaftigkeit beladen. Die Mannschaft gleitet hin und her wie Gespenster begrabener Jahrhunderte; ihre Augen haben einen gierigen, rastlosen Ausdruck, und wenn ihre Gestalten im unsichern Schein der Laternen meinen Weg kreuzen, beschleicht mich ein Gefühl, wie ich es nie zuvor empfand, trotzdem ich mich mein Leben lang mit Altertümern befaßt und in Balbek und Tadmor und Persepolis die Schatten zerfallener Säulen in mich aufgesogen habe, bis meine Seele selber zur Ruine wurde.
Ich blicke um mich und schäme mich meiner früheren Besorgnisse. Wenn ich schon vor dem Winde zitterte, der uns bisher begleitete, muß ich nicht vor Entsetzen vergehen in diesem Chaos von Sturm und Meer, demgegenüber Bezeichnungen wie Wirbelwind und Samum bedeutungslos sind? In nächster Nähe des Schiffes ist alles Nacht und unergründlich schwarzes Wasser; in der Entfernung von etwa einer Meile aber, zu beiden Seiten des Schiffes, sieht man undeutlich und in Abständen ungeheure Eiswälle in den trostlosen Himmel ragen, wie Mauern, die das Weltall umschließen.
Es ist, wie ich annahm: das Schiff befindet sich in einer Strömung – wenn man diesen Namen anwenden kann auf eine Flut, die heulend und kreischend zwischen den Eiswällen gen Süden donnert, mit der Geschwindigkeit eines sich überstürzenden Wasserfalls.
*
Das Grauen meiner Empfindungen zu begreifen, ist, wie ich annehme, ganz unmöglich; dennoch wird selbst meine Verzweiflung von der Neugier beherrscht, in die Geheimnisse dieser schaudervollen Gegend einzudringen, von einer Neugier, die mir die entsetzlichste Todesart erträglicher macht. Es ist Tatsache, daß wir irgendeiner unerhörten Erkenntnis entgegeneilen – irgendeinem unenthüllbaren Geheimnis, dessen Enträtselung Untergang bedeutet. Vielleicht führt dieser Strom uns bis zum Südpol selbst. Ich muß bekennen, daß diese augenscheinlich so absurde Vorstellung alle Wahrscheinlichkeit für sich hat.
Die Mannschaft wandert mit rastlosen, zitternden Schritten an Deck auf und ab; ihre Gesichter aber tragen eher den Ausdruck leidenschaftlicher Hoffnung als den mutloser Verzweiflung.
Wir treiben noch immer vor dem Wind, und da wir mit Segeln ganz bepackt sind, so wird das Schiff zuweilen geradezu in die Luft gehoben! O Grauen über Grauen! – Die Eismauern rechts und links hören plötzlich auf, und wir wirbeln in ungeheuren konzentrischen Kreisen dahin – rund um den Rand eines riesigen Amphitheaters, dessen gegenüberliegende Seite sich in Dunkel und Ferne verliert. Doch wenig Zeit bleibt mir, über mein Schicksal nachzudenken! Die Spiralen werden enger und enger – wir stürzen mit rasender Eile in den Strudel – und mitten im Donnergeheul von Meer und Sturm erbebt das Schiff, wankt und – o Gott! – versinkt!
Inhaltsverzeichnis
Geschichten von Schönheit, Liebe und Wiederkunft
Dicebant mihi sodales,
si sepulcrum amicae visitarem, curas meas
aliquantulum fore levatas.
Ebn Zaiat
Mannigfach sind Trübsal und Not. Unglück und Gram sind vielgestaltig auf Erden. Gleich dem Regenbogen spannt sich das Unglück von Horizont zu Horizont, und gleich den Farben des Regenbogens sind seine Farben vielfältig und scharf abgegrenzt und dennoch innig miteinander verwoben. Wie kommt es, daß Schönheit mir zum Kummer wurde, daß selbst aus Friedsamkeit ich nur Gram zu schöpfen wußte? Doch wie die Ethik lehrt, daß das Böse eine Konsequenz des Guten sei, so lehrt uns das Leben, daß die Freude die Trauer gebiert. Entweder ist die Erinnerung vergangener Seligkeit die Pein unseres gegenwärtigen Seins, oder die Qualen, die sind, haben ihren Ursprung in den Wonnen, die gewesen sein könnten.
Mein Taufname ist Egäus, meinen Familiennamen will ich verschweigen. Doch gibt es keine Burg im Lande, die stolzer und ehrwürdiger wäre als mein Geburtshaus mit seinen düstern grauen Hallen. Man hat unser Geschlecht ein Geschlecht von Hellsehern genannt. Und dieser Glaube wurde bestärkt durch allerlei Sonderlichkeiten im Baustil des Herrenhauses, in den Fresken des Hauptsaales, in den Wandteppichen der Schlafgemächer, in den Ornamenten einiger Gewölbepfeiler der Waffenhalle, besonders aber in der Galerie alter Gemälde, in Form und Ausstattung des Bibliothekzimmers und schließlich auch in seinen äußerst seltsamen Bücherschätzen selbst.
Die Erinnerung an meine frühesten Lebensjahre ist mit jenem Zimmer und seinen Büchern, von denen ich nichts Näheres mehr sagen will, innig verknüpft. Hier starb meine Mutter. Hier wurde ich geboren. Doch es ist überflüssig, zu sagen, daß ich schon früher gelebt, daß meine Seele schon ein früheres Dasein gehabt hatte. Ihr leugnet es? Nun, wir wollen nicht streiten. Selbst überzeugt, suche ich nicht zu überzeugen. Jedoch – ich habe ein Erinnern an luftzarte Gestalten, an geisterhafte, bedeutsame Augen, an harmonische, doch trauervolle Laute; ein Erinnern, das sich nicht bannen laßt, ein Erinnern, das einem Schatten gleich sich nicht von meiner Vernunft loslösen läßt, solange ihr Sonnenlicht bestehen wird.
In jenem Zimmer also wurde ich geboren. Da ich solcherweise, aus der langen Nacht des scheinbaren Nichts erwachend, in ein wahres Märchenland eintrat, in einen Palast von Vorstellungen und Träumen, in die wunderlichen Reiche klösterlich einsamen Denkens und Wissens, so ist es nicht erstaunlich, daß ich mit überraschten, brennenden Blicken in diese Welt starrte, daß ich meine Knabenjahre im Durchstöbern von Büchern vergeudete, meine Jünglingszeit in Träumen verschwendete. Erstaunlich aber ist es, welch ein Stillstand über die sprudelnden Quellen meines Lebens kam, als die Jahre dahingingen und auch mein Mannesalter mich noch im Stammhaus meiner Väter sah, erstaunlich, welch vollständige Umwandlung mit meinem Wesen, mit meinem ganzen Denken vor sich ging. Die Realitäten des Lebens erschienen mir wie Visionen und immer nur wie Visionen, während die wunderlichen Ideen aus Traumlanden nicht nur meinem täglichen Leben Inhalt gaben, sondern ganz und gar zu meinem täglichen Leben selber wurden.
Berenice war meine Kusine, und wir wuchsen zusammen in den Hallen meiner Väter auf. Doch wir entwickelten uns sehr verschieden: ich schwächlich von Gesundheit und dem Trübsal verfallen, sie ausgelassen, anmutig und von übersprudelnder Lebenskraft; ihrer warteten die spielenden Freuden draußen in freier Natur, meiner die ernsten Studien in klösterlicher Einsamkeit. Ich lauschte und lebte nur meinem eignen Herzen und ergab mich mit Leib und Seele dem angestrengtesten und qualvollsten Nachdenken; sie schlenderte sorglos durchs Leben und achtete nicht der Schatten, die auf ihren Weg fielen, und nicht der rabenschwarzen Schwingen, mit denen die Stunden schweigend entflohen. Berenice! Ich beschwöre ihren Namen herauf – und aus den grauen Trümmern des Gedenkens erheben sich jäh tausend ungestüme Erinnerungen! Ah, leibhaftig steht ihr Bild jetzt vor mir, so wie in jungen Tagen ihrer Leichtherzigkeit und ihres Frohsinns! O wundervolle, himmlische Schönheit! O Sylphe, die durch die Gebüsche Arnheims schwebte! O Najade, die seine Quellen und Bäche belebte! Und dann, dann wird alles grauenvolles Geheimnis, wird zu seltsamer Spukgeschichte, die verschwiegen werden sollte. Krankheit, verhängnisvolle Krankheit befiel ihren Körper; plötzlich – vor meinen Augen fast – brach die Zerstörung über sie herein, durchdrang ihren Geist, ihr Gebaren, ihren Charakter und vernichtete mit schrecklicher, unheimlicher Gründlichkeit ihr ganzes Wesen, ihre ganze Persönlichkeit! Weh! Der Zerstörer kam und ging! Und das Opfer – wo blieb es? Ich kannte es nicht mehr – erkannte es nicht mehr als Berenice!
Unter der Gefolgschaft dieser ersten verderbenbringenden Krankheit, die eine so gräßliche Umwandlung in Körper und Seele meiner Kusine herbeiführte, ist als quälendste und hartnäckigste Erscheinung eine Art Epilepsie zu nennen, die nicht selten in Starrsucht endete – in Starrsucht, die endgültiger Auflösung täuschend ähnlich war. Das Erwachen aus diesem Zustand war in den meisten Fällen erschreckend jäh.
Читать дальше