Hastig drehte er sich herum; sie stand vor ihm, lächelnd, mit frohem, liebestrahlendem Gesichtsausdruck. Sie reichte ihm die Hand. Er nahm sie zitternd, wobei er immer noch an eine Hinterlist, an eine verborgene Bosheit glaubte. Sie fuhr fröhlich fort:
»Was ist denn aus Ihnen geworden? Was tun Sie? Warum lassen Sie sich nicht mehr sehen?«
Er hatte seine Fassung noch nicht wiedergewonnen und stammelte:
»Ach, ich habe soviel zu tun gehabt, gnädige Frau! Herr Walter hat mir einen neuen Posten anvertraut, der mir große Arbeit macht.«
Sie sah ihm ins Gesicht. In ihrem Blick konnte er nichts anderes entdecken als Wohlwollen und Zuneigung.
»Ich weiß es,« erwiderte sie, »das ist aber kein Grund, Ihre Freunde zu vergessen.«
Sie wurden getrennt durch den Eintritt einer dicken, dekolletierten Dame mit roten Armen und roten Wangen, die sehr auffallend gekleidet war. Sie ging langsam und trat so schwer auf, daß man bei jeder Bewegung der gewaltigen Oberschenkel ihr riesiges Gewicht zu spüren glaubte.
Da sie anscheinend mit größter Rücksicht und Zuvorkommenheit behandelt wurde, wandte sich Duroy an Frau Forestier:
»Wer ist denn diese Dame?«
»Die Vicomtesse de Percemur, die unter dem Namen ‘Samtpfötchen’« schreibt.«
Er war starr und hätte am liebsten laut aufgelacht:
»Samtpfötchen! Das sollen Samtpfötchen sein! Und ich habe mir darunter eine junge, schöne Frau wie Sie gedacht. Na, das ist glänzend, ausgezeichnet!«
Ein Diener erschien in der Tür und meldete:
»Es ist angerichtet.«
Das Diner war zwanglos und lustig, eines jener Diners, bei denen man von allem redet und nichts sagt.
Duroy saß zwischen der häßlichen Tochter des Hausherrn, Fräulein Rose, und Madame de Marelle. Diese Nachbarschaft war ihm doch etwas peinlich, wenn sie auch vortrefflich bei Laune zu sein schien und ununterbrochen plauderte. Er war zuerst befangen und verwirrt, wie ein Musiker, der den Ton verloren hat. Allmählich fand er aber auch seine Sicherheit wieder. Sie sahen sich gegenseitig immer häufiger an, und ihre Blicke befragten einander und verstrickten sich so innig und verliebt wie früher. Plötzlich schien es ihm, als ob unter dem Tische etwas seinen Fuß streifte. Langsam schob er sein Bein vor, bis es an das seiner Nachbarin stieß, ohne daß sie vor dieser Berührung zurückwich. Sie sprachen dabei nicht miteinander, sondern jeder beschäftigte sich sehr eifrig mit seinem anderen Nachbarn.
Duroys Herz pochte. Er schob etwas weiter sein Knie vor. Er fühlte einen leichten Gegendruck, und er begriff, daß ihre Liebe wieder begonnen hatte.
Wie würden sie miteinander sprechen? Das war gleichgültig; aber ihre Lippen zitterten jedesmal, wenn ihre Blicke sich begegneten. Doch der junge Mann wollte auch gegen die Tochter seines Chefs liebenswürdig sein und redete sie von Zeit zu Zeit an. Sie antwortete ganz wie ihre Mutter und wußte immer sofort, was sie erwidern sollte. Zur Rechten des Herrn Walter saß mit der Haltung einer Prinzessin die Vicomtesse de Percemur; und Duroy, der sich über diesen Anblick amüsierte, fragte ganz leise Madame de Marelle:
»Kennen Sie vielleicht auch die andere, die unter dem Namen »Roter Domino« schreibt?«
»Gewiß. Die Baronin de Livar!«
»Auch so eine Massengestalt?«
»Nein. Aber genau so komisch. Sie ist ein langes Gerippe von sechzig Jahren, mit falschen Löckchen und langen Zähnen wie eine Engländerin und mit Anschauungen aus der Großväterzeit, Toilette desgleichen.«
»Wo hat man nur diese literarischen Berühmtheiten aufgegabelt?«
»Die Emporkömmlinge des Bürgertums schwärmen immer noch für Abfälle aus adligem Geschlecht.«
»Sonst liegt kein Grund vor?«
»Keiner.«
Am Tisch hatte jetzt eine politische Debatte zwischen dem Chef, den beiden Deputierten, Norbert de Varenne und Jaques Rival begonnen; sie dauerte bis zum Dessert.
Als man wieder im Salon war, näherte sich Duroy von neuem Madame de Marelle. Er sah ihr tief in die Augen und fragte:
»Darf ich Sie heute nach Hause begleiten?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil Herr Laroche-Mathieu, der mein Nachbar ist, mich jedesmal bis zur Haustür begleitet, wenn ich hier abends bin.«
»Wann darf ich Sie dann sehen?«
»Kommen Sie morgen zum Frühstück.«
Ohne ein weiteres Wort trennten sie sich.
Duroy blieb nicht lange. Er fand die Gesellschaft zu eintönig. Auf der Treppe holte er Norbert de Varenne ein, der sich ebenfalls empfohlen hatte. Der alte Dichter faßte ihn unterm Arm. Da sie auf so verschiedenen Gebieten tätig waren, brauchte er seine Rivalität nicht zu fürchten und brachte dem jungen Manne ein gewisses väterliches Wohlwollen entgegen.
»Wollen Sie mich ein Stückchen nach Hause begleiten?« fragte er.
»Mit größtem Vergnügen, verehrtester Meister!«
Sie gingen langsam weiter und schritten den Boulevard Malherbes hinunter.
Paris lag in dieser kalten Winternacht fast menschenleer da,. Es war eine Nacht, in der die Sterne viel weiter entfernt schienen als sonst und der eisige Windhauch aus der Unendlichkeit des Weltalls weit jenseits der Sterne zu kommen scheint,
Anfangs sprachen die Männer kein Wort; dann äußerte Duroy, um doch etwas zu sagen:
.,Herr Laroche-Mathieu scheint recht klug und unterrichtet zu sein.«
»Finden Sie?« murmelte der alte Dichter.
Überrascht und zögernd erwiderte Duroy:
»Allerdings, er gilt ja für einen der fähigsten Köpfe in der Kammer.«
»Möglich. Unter den Blinden ist der Einäugige König. Diese ganze Gesellschaft, sehen Sie, ist sehr mittelmäßig. Ihr Geist steckt zwischen zwei Wänden — Geld und Politik. — Es sind alberne dumme Jungen, mein Lieber, mit denen man unmöglich über etwas reden kann, was uns am Herzen liegt. Ihr Geist hat einen Bodensatz von Schlamm oder besser gesagt von Mist, wie die Seine bei Asnieres. Es ist weiß Gott schwer, einen Menschen mit weitem Geist zu finden, bei dem uns wie am Meer das Empfinden von etwas Großem und Gewaltigem überkommt. Ich kannte ein paar solcher Menschen, jetzt aber sind sie tot.«
Norbert de Varenne sprach mit klarer aber gedämpfter Stimme, die laut durch die Nacht tönen müßte, wenn er nicht so innerlich und zurückhaltend gesprochen hätte. Er schien überreizt und traurig zu sein; er war erfüllt von jener Schwermut, die die Seelen befällt und sie zittern läßt wie der Frost die Erde. Er fuhr fort:
»Was hat das übrigens zu sagen, ob einer ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger Genie hat, zuletzt kommt ja doch das Ende.«
Er schwieg. Duroy, der sich innerlich froh und heiter fühlte, sagte lächelnd:
»Sie sehen heute zu schwarz, verehrtester Meister.«
»Das tu ich stets, mein Junge,« erwiderte der Dichter, »und in ein paar Jahren werden Sie es auch tun. Das Leben ist ein Berg; solange man hinaufsteigt, sieht man den Gipfel und fühlt sich glücklich. Ist man aber oben, dann erblickt man mit einemmal den Abgrund und das Ende, nämlich den Tod. Bergauf geht es langsam, doch bergab schnell. In Ihrem Alter ist man fröhlich. Man erhofft so vieles, was übrigens nie eintritt. In meinen Jahren erwartet man nichts mehr… als den Tod.«
Duroy begann zu lachen:
»Verdammt! Mir wird es gruselig, wenn ich Sie höre.«
»Nein,« fuhr Norbert de Varenne fort, »Sie verstehen mich heute nicht. Aber später mal werden Sie sich dessen erinnern, was ich Ihnen jetzt sage. Es kommt ein Tag — und er kommt viel zu früh —, wo man nicht mehr lachen kann, weil hinter allem, was man sieht, der Tod steht!
Oh! Sie verstehen nicht mal dieses Wort: der Tod! In Ihrem Alter bedeutet das nichts — in meinem ist es schrecklich. Ja, auf einmal da versteht man es, man weiß nicht woher und man weiß nicht warum, und plötzlich bekommt das Leben ein anderes Gesicht. Ich fühle es schon seit fünfzehn Jahren, wie er an mir zehrt, als ob ich ein Nagetier im Busen trüge. Ich merke, wie er mich nach und nach, Monat für Monat, Stunde für Stunde, zerstört, wie ein altes Haus, das dem Einsturz nahe ist. Er hat mich so völlig entstellt, daß ich mich nicht mehr wiedererkenne. In mir ist nichts mehr von mir selbst, von dem frischen, starken, strahlenden Manne, der ich mit dreißig Jahren war, übriggeblieben. Ich sah, wie er meine schwarzen Haare weiß färbte, allmählich, mit einer hinterlistigen und heimtückischen Langsamkeit. Er nahm mir meine straffe Haut, meine Muskeln, meine Zähne, meinen ganzen Körper und ließ mir nur eine verzweifelte Seele, die ihm auch wohl bald zum Opfer fallen wird.
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