Eine späte Freude allerdings, eine abendrötliche und schon umwölkt von Resignation. Denn Stendhals Dichtung setzt zu spät ein, um sein Leben noch schöpferisch zu bestimmen, sie beendet, sie musikalisiert nur sein langsames Sterben. Mit dreiundvierzig Jahren beginnt Stendhal seinen ersten Roman »Le Rouge et le Noir« (ein früherer »Armance« zählt nicht ernstlich mit), mit fünfzig Jahren den »Lucien Leuwen«, mit vierundfünfzig den dritten, die »Chartreuse de Parme«. Drei Romane erschöpfen seine literarische Leistung, drei Romane, die, vom motorischen Zentrum her gesehen, nur einer sind, drei Variationen eines und desselben Ur-und Elementarerlebnisses: der Seelengeschichte von Henry Beyles Jugend, die der Alternde nicht in sich absterben lassen, sondern immer wieder erneuern will. Alle drei könnten sie den Titel seines Nachfahren und Verächters Flaubert führen: »L’éducation sentimentale« – »Die Erziehung des Gefühls«.
Denn alle diese drei Jünglinge, Julien, der mißhandelte Bauernsohn, Fabrizio, der verzärtelte Marquis, und Lucien Leuwen, der Bankiersohn, treten mit der gleichen glühenden und maßlosen Idealität in ein erkaltendes Jahrhundert hinein, Schwärmer sie alle für Napoleon, für das Heroische, für das Große, für die Freiheit; alle suchen sie aus dem Überschwang des Gefühls zuerst eine höhere, geistigere, beschwingtere Form, als sie das wirkliche Leben verstattet. Alle drei tragen sie ein verworrenes, unberührtes Herz voll verhaltener Leidenschaft den Frauen entgegen. Und alle drei werden sie grausam erweckt durch die schneidende Erkenntnis, daß man inmitten einer Frostwelt und Widerwelt sein heißes Herz verstecken, sein Schwärmertum verleugnen müsse; ihr reiner Anlauf zerschellt an der Kleinlichkeit und Bürgerangst der »Andern«, jener ewigen Feinde Stendhals. Allmählich lernen sie die Schliche ihrer Gegner, die Geschicklichkeit der kleinen Ränkespiele, die gerissenen Berechnungen, sie werden raffiniert, lügnerisch, weltmännisch und kalt. Oder noch ärger: sie werden klug, so rechenklug und egoistisch wie der alternde Stendhal, sie werden brillante Diplomaten, Geschäftsgenies und superbe Bischöfe; kurzum, sie paktieren mit der Wirklichkeit und passen sich ihr an, sobald sie aus ihrem wahren Seelenreich, dem der Jugend und reinen Idealität, sich schmerzhaft verstoßen fühlen.
Um dieser drei Jünglinge willen, oder vielmehr um des jungen verschollenen Menschen willen, der einmal heimlich in seiner Brust geatmet, um »sa vie a vingt ans«, um sich, den Zwanzigjährigen, noch einmal leidenschaftlich zu erleben, hat der fünfzigjährige Henri Beyle diese Romane geschrieben. Als ein wissender, kühler und enttäuschter Geist erzählt er in ihnen die Jugend seines Herzens, als kunstwissender, klarer Intellektualist schildert er die ewige Romantik des Anbeginns. So vereinen die Romane wunderbar den Urgegensatz seines Wesens; hier ist mit der Klarheit des Alters die edle Verwirrung der Jugend gestaltet und Stendhals Lebenskampf zwischen Geist und Gefühl, zwischen Realismus und Romantik sieghaft ausgefochten in drei unvergeßlichen Schlachten, jede so dauerhaft dem Gedächtnis der Menschheit wie Marengo, Waterloo und Austerlitz.
Diese drei Jünglinge, obzwar verschiedenen Schicksals, anderer Rasse und anderen Charakters, sind Brüder im Gefühl: ihr Schöpfer hat ihnen das Romantische seines Naturells vererbt und zu entfalten gegeben. Und ebenso sind ihre drei Gegenspieler einer; der Graf Mosca, der Bankier Leuwen und der Comte de la Môle, sie sind abermals Beyle, aber der ganz zu Geist kristallisierte Intellektualist, der späte, der kluggewordene alte Mann, in dem von den Röntgenstrahlen der Vernunft allmählich alle Idealitäten ausgebrannt und vertilgt sind. Diese drei Gegenspieler zeigen symbolisch, was das Leben aus dem Jüngling schließlich macht, wie der »exalté en tout genre se dégoûte et s’éclaire peu à peu« (Henri Beyle über sein eigenes Leben). Das heroische Schwärmertum ist abgestorben, nun ersetzt die triste Überlegenheit der Taktik und Praktik den zauberischen Rausch, eine kalte Spiellust die elementare Leidenschaft. Sie regieren die Welt, Graf Mosca ein Fürstentum, der Bankier Leuwen die Börse, der Graf de la Môle die Diplomatie, aber sie lieben nicht die Marionetten, die an ihren Schnüren tanzen, sie verachten, eben weil sie zu nah, zu deutlich ihre Erbärmlichkeit kennen, die Menschen. Noch vermögen sie Schönheit und Heroismus nachzufühlen, aber nachzufühlen nur, und würden alle ihre Erfüllungen tauschen gegen die dumpfe, wirre, ungeschickte Sehnsüchtigkeit der Jugend, die nichts erlangt und ewig alles erträumt. Wie Antonio, der kaltwissende, kluge Adelsmensch neben Tasso, dem jungen und glühenden Dichter, so stehen diese Prosaisten des Daseins halb hilfreich und halb feindlich, halb verächtlich und im geheimsten doch neidisch dem jugendlichen Rivalen entgegen wie der Geist dem Gefühl, wie die Wachheit dem Traum.
Zwischen diesen beiden ewigen Polen des männlichen Schicksals, der knabenhaft wirren Sehnsucht nach Schönheit und dem sichern, ironisch überlegenen Willen zur realen Macht, kreist die Stendhalsche Welt. Den Jünglingen, den scheu und brennend Begehrenden, treten Frauen entgegen, sie fangen ihre brausende Sehnsucht auf in klingender Schale, sie besänftigen durch die Musik ihrer Güte die zornige Unerlöstheit ihres Verlangens. Rein lassen sie ihr Gefühl entlodern, diese milden, selbst in der Leidenschaft noch edlen Frauen Stendhals, die Madame de Rênal, die Madame de Chasteller, die Duchezza di Sanseverina; aber selbst heilige Hingabe kann ihren Geliebten nicht die erstlingshafte Reinheit der Seele bewahren, denn bei jedem Schritt ins Leben treten diese jungen Menschen tiefer in den Morast der menschlichen Gemeinheit. Ihnen entgegen, dem erhebenden, die Seele süß ausweitenden Element der heroischen Frauen, steht hier wie immer die gemeine Wirklichkeit, das pöbelhaft Praktische, das schlangenkluge, schlangenkalte Gezücht der kleinen Intriganten, der Streber – der Menschen kurzweg, wie sie Stendhal in seinem Verachtungsgrimm gegen das Mittelmäßige zu sehen beliebt. Während er die Frauen aus der romantischen Optik seiner Jugend verklärt, als alter Mann noch immer verliebt in die Liebe, stößt er gleichzeitig mit dem ganzen aufgestauten Zorn den Klüngel der niedern Schächer in die Handlung wie zur Schlachtbank hinein. Aus Dreck und Feuer formt er diese Richter, Staatsanwälte, Ministerchen, Paradeoffiziere, Salonschwätzer, diese kleinen Klatschseelen, klebrig und nachgiebig jeder einzelne wie Kot, aber: ewiges Verhängnis! all diese Nullen zusammengereiht schwellen zu Zahl und Überzahl, und wie immer auf Erden, gelingt es ihnen, das Sublime zu erdrücken. So wechselt innerhalb seines epischen Stils die tragische Melancholie des unheilbaren Schwärmers mit der dolchhaft zustoßenden Ironie des Enttäuschten. Die wirkliche Welt hat Stendhal in seinen Romanen mit dem gleichen Haß geschildert wie die idealisch imaginäre mit der schwelenden Glut seiner Leidenschaft, Meister in dieser und jener Sphäre, doppelweltig und heimisch in Geist und Gefühl.
Gerade das aber verleiht den Romanen Stendhals ihren besonderen Reiz und Rang, daß sie Spätwerke sind, jugendlich im Gefühl und wissend überlegen im Gedanklichen. Denn nur Distanz vermag Sinn und Schönheit jeder Leidenschaft schöpferisch zu erklären. »Un homme dans les transports de la passion ne distingue pas les nuances« – der Ergriffene selbst weiß im Augenblick der Ergriffenheit nicht um die Nuancen seiner Empfindung; er kann vielleicht lyrisch und hymnisch seine Ekstasen ins Uferlose rollen lassen, nie aber sie erklären und episch deuten. Die wahrhafte, die epische Analyse fordert immer Klarsichtigkeit, beruhigtes Blut, wachen Verstand, ein Schon-über-der-Leidenschaft-Sein. Stendhals Romane nun haben herrlich dieses gleichzeitig Innen und Außen; hier schildert gerade an der Grenze zwischen Aufstieg und Abklang der Männlichkeit ein Künstler wissend das Gefühl; er fühlt seine Leidenschaft nochmals ergriffen nach, aber er versteht sie schon und ist befähigt, sie von innen heraus zu dichten, von außen her zu begrenzen. Und dies allein bedeutet ja im Romane Stendhals Antrieb und tiefste Lust, das Innere, das Inwendige seiner neugespielten Leidenschaft zu betrachten – das äußerliche Geschehnis dagegen, das technisch Romanhafte gilt dem Künstler herzlich gering, und er schludert es ziemlich improvisatorisch herunter (er gesteht selbst, am Ende eines Kapitels nie gewußt zu haben, was im nächsten geschehen solle). Einzig vom innern Wellengang her haben seine Werke Kunstkraft und Bewegtheit. Sie sind am schönsten dort, wo man merkt, daß sie seelisch mitgefühlt sind, und am unvergleichlichsten, wo Stendhals eigene scheue und verdeckte Seele den Worten und Taten seiner Lieblinge einströmt, wo er seine Menschen leiden läßt an der eigenen Zwiefalt. Die Schilderung der Schlacht von Waterloo in der »Chartreuse de Parme« ist eine solche geniale Abbreviatur seiner ganzen italienischen Jugendjahre: wie er selbst nach Italien, so zieht sein Julien zu Napoleon, um auf den Schlachtfeldern das Heroische zu finden, aber Zug um Zug entreißt ihm die Wirklichkeit seine idealistischen Vorstellungen. Statt klirrender Reiterattacken erlebt er das sinnlose Durcheinander der modernen Schlacht, statt der Grande Armée findet er eine Rotte fluchender, zynischer Kriegsknechte, statt der Helden den Menschen, gleich mittelmäßig und dutzendhaft unter dem bunten wie dem gewöhnlichen Rock. Solche Augenblicke der Ernüchterung sind einzig meisterlich bei ihm belichtet: wie in unserm irdischen Weltraum die Ekstatik der Seele immer wieder an der exakten Wirklichkeit zuschanden wird, das hat kein Künstler zu vollendeterer Intensität gebracht. Nur, wo er seinen Menschen von seinem eigensten Erlebnis gibt, wird er Künstler über seinen Kunstverstand hinaus: »Quand il était sans émotion, il était sans esprit.«
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