Als der Schweizerbund unter donnerndem Zuruf des lebendigen Berges umher beschworen war, setzte sich die ganze Menge, Zuschauer und Spieler untereinandergemischt, in Bewegung; der größte Teil wogte wie eine Völkerwanderung nach dem Städtchen, wo ein einfaches Mahl bereitet und fast jedes Haus in eine Herberge umgewandelt war, sei es für Freunde und Bekannte, sei es für Fremde gegen einen billigen Zehrpfennig; denn so unbefangen, wie wir die Aufzüge des Stückes durcheinandergeworfen, hielten wir auch für gut, sie durch eine Erholungsstunde zu unterbrechen, um nachher die gewaltsamen Schlußereignisse mit desto frischerm Mute herbeizuführen. Der eigentliche Festwirt hatte in Betracht des ungewöhnlich warmen Wetters rasch den Markt, oder besser gesagt, den ganzen und einzigen innern Raum des Städtchens in einen Speisesaal umgeschaffen; lange Tischreihen waren errichtet und gedeckt für diejenigen der »Verkleideten« und sonstigen Ehrenpersonen, welche das gemeinsame Essen teilen wollten, die übrigen besetzten die Häuser und viele einzelne Tische, welche vor die Häuser gestellt waren. So gewann das Städtchen doch wieder das Ansehen einer einzigen Familie, aus allen Fenstern blickten die abgesonderten Gesellschaften auf die große Haupttafel, und diejenigen vor den Häusern sahen bald wie unregelmäßige Verzweigungen derselben aus. Den Stoff zu den lauten Gesprächen lieh die allgemeine Theaterkritik, die sich über alle Tische verbreitete und deren mündliche Artikel die Künstler selbst verfaßten. Diese Kritik befaßte sich weniger mit dem Inhalte des Dramas und mit der Darstellung desselben als mit dem romantischen Aussehen der Helden und mit der Vergleichung mit ihrem gewöhnlichen Behaben. Daraus entstanden hundertfache scherzhafte Beziehungen und Anspielungen, von denen kaum der Tell allein freigehalten wurde; denn dieser schien unangreifbar. Aber der Tyrann Geßler geriet in ein solches Kreuzfeuer, daß er in der Hitze des Gefechtes einen kleinen Rausch trank und seinen blinden Ingrimm bald auf sehr natürliche Weise darzustellen imstande war. Die heitersten Scherze veranlaßten die jungen Leute, welche in Frauentracht an der Tafel saßen. Es waren drei oder vier Bursche wie Milch und Blut, mit Sorgfalt gekleidet, und benahmen sich sehr züchtig und zimpferlich; während sie verliebter und kecker Natur und angehende Don Juans waren, ließen sie sich nun von ihren Kameraden, den ländlichen Kavalieren, spröde den Hof machen und ahmten aufs beste die Art sittsamer Frauen nach. Die wirklichen Mädchen betrachteten aus der Entfernung ziemlich wohlgefällig ihre neuen Rivalinnen; doch wenn die verkleideten Schälke plötzlich sich unter sie mischten und ein mädchenhaft vertrauliches Wort flüstern wollten, fuhren sie schreiend auseinander. Aber dies alles belustigte mich nicht sehr, da ich mich genug um Anna zu kümmern hatte. Sie saß am Ehrenplatze zwischen ihrem Vater und dem Regierungsstatthalter, gegenüber dem Tell und seiner wirklichen anwesenden Ehefrau. Nachdem sie schon ihrer reizenden und vornehmen Erscheinung wegen die allgemeine Aufmerksamkeit erregt, machte sich nun auch der ehrbare Ruf ihres Vaters, ihre feine Erziehung und im Hintergrunde ihr artiges Erbe geltend; ich mußte zu meiner großen Bekümmernis sehen, wie der Platz, wo sie saß, von allerhand hoffnungsvollen Gesellen belagert wurde, ja wie alle vier Fakultäten sich bestrebten, dem gravitätischen Schulmeister zu Gefallen zu leben. Ein frisch patentierter junger Doktor spielte den Erfahrenen, ein Jurist machte Witze, ein Vikarius verdrehte die Augen und sprach von der Poesie wie eine Kuh von der Muskatnuß (um das Sprichwort zu gebrauchen), und ein rationeller Landwirt, der die Philosophie vertrat, zog alle Augenblicke eine große Schweinsblase hervor, welche wenigstens funfzig Gulden in allen Silbersorten enthielt, und suchte mit starkem Gerassel einige Kreuzer, um einen Aufwärter zu bezahlen. Doch alle waren stattliche blühende Bursche mit einer behaglichen Zukunft; ich war arm und hatte einen Beruf gewählt, der nicht nur mit ewiger Armut verbunden war nach meinen eigenen Begriffen und zu meinem stolzen Vergnügen, sondern überhaupt bei allen diesen Leuten nichts gelten konnte, während der Stand eines jeden der vier Hoffnungsvollen, selbst wenn diese arm waren, großes Ansehen bei dem Volke genoß, wie alles, was es nach seinen Begriffen für notwendig hält und vom Staate kontrolliert oder besoldet sieht. Ich entdeckte daher zum ersten Mal mit Schrecken, welch einer geschlossenen Macht ich gegenüberstand. Anna war gegen alle gleich freundlich, so unbefangen und offen, wie ich sie gar nie gesehen und am wenigsten gegen mich; aber obgleich mich gerade das hätte beruhigen sollen und ich überdies die ungewöhnlich edle Denkart des Schulmeisters kannte, so wurde es mir doch ganz heiß, und ich beschuldigte sogleich die Weiber, daß sie unter dem Vorwande der Selbstverleugnung und des kindlichen Gehorsams es doch immer vorzögen, wenn auch unter heuchlerischen Tränen, sich unvermerkt dahin zu salvieren, wo guter Rat und Wohlstand wäre, und wenn sie eine Ausnahme machten, so geschähe das weniger aus Liebe als aus Eigensinn, welcher sich auch in Übertreibung und Ungebärdigkeit alsobald kundgebe! Doch kam mir kein Gedanke an einen besondern Vorwurf gegen Anna, weil mir alles achtungswert und notwendig schien, was sie tat oder je tun würde, und ich entschuldigte sie sogar im voraus, wenn sie etwa in den Fall geraten sollte, nach dem Willen ihres Vaters einem Angesehenen und Reichen ihre Hand zu geben. Auch achtete ich diese ganze mächtige Volksschaft zu sehr und fühlte mich nur unbedeutend und unnütz in diesem Augenblicke. Betrübt erhob ich mich von meinem Sitze, wo ich zufällig zwischen zwei fremde Personen geraten war, und schlenderte um die Tische herum, meine Vettern und Basen aufsuchend, die sich im vollen Jubel befanden. Sie waren zu sehr mit ihrer Freude beschäftigt, als daß sie meinen Trübsinn hätten bemerken können, und ich war nahe daran, in das empfindsame Mitleid mit mir selbst, das ich in früheren Tagen gekannt, zu verfallen, als Margot, die Braut, welche in stiller Glückseligkeit neben dem Müller saß, mich heranwinkte, mit freudestrahlenden und doch teilnehmenden Augen fragte, warum ich mich so einsam und düster umhertreibe, mich mit ungewohnter Herzlichkeit beim Arme nahm und an ihrem Stuhle festhielt. Ich hätte sie aus Dankbarkeit umhalsen und küssen mögen, zumal sie mir so schön und liebenswürdig vorkam wie früher nie. Eine Braut zur Beschützerin zu haben, schien mir halb gewonnenes Spiel. Ich empfand sogleich eine warme und treue Freundschaft für sie, und auch sie schien froh zu sein, die dünne Scheidewand der bisherigen Ironie zwischen uns fallenzulassen und einen ihrem künftigen Hause ergebenen Vetter aus mir zu machen. Sie unterhielt sich fortwährend und angelegentlich mit mir und veranlaßte den Müller, an dem vertraulichen Geplauder teilzunehmen. Das tat er denn auch mit freundschaftlicher Kraft, wir wurden herzlicher und offener gegeneinander, kurz, ich glaubte endlich zu meinem großen Troste zu entdecken, daß man mich achtete und werthielt. Zutraulich bei diesem hübschen Paare stehend, sah ich nun ruhiger über die Versammlung hin und rückte endlich ein Stück weiter, um mich bei dem Schulmeister und seiner Tochter einzufinden. Trotz des Verkommnisses in der Gartenlaube war unser Verkehr nicht sehr fortgeschritten, wir wechselten kaum einige Worte, im übrigen blieben wir still und zufrieden in unserer gegenseitigen Nähe, und selbst heute hatten wir fast nichts unmittelbar zueinander gesprochen. Als ich mich nachlässig hinter Annas Stuhl lehnte, bot mir der Schulmeister, während er mit den Nachbaren sprach, leichthin das Glas, wie man einem Angehörigen tut, den man oft sieht; seine Tochter kehrte sich nicht einmal um und fuhr fort, ihre Verehrer anzuhören. Das schmeichelte mir nun wieder, vor einer Viertelstunde hätte es meine Betrübnis vermehrt; ich schlug die Arme übereinander und hörte gelassen dem Gespräche zu. In ihrem Wetteifer waren die vier jungen Herren ein wenig kühn und prahlerisch geworden; ihre Studentenbildung und die Sitten ihres ländlichen Herkommens gerieten wunderlich durcheinander, sie verloren ihren Takt gegenüber dem feinen Kinde, das sie wie eine Mücke zu fangen glaubten, sagten Dummheiten ohne alle Anmut, und als das Zeichen zum Aufbruch erklang, gaben sie Anna ihre Visitenkarten! Was das heißen sollte, wußte kein Mensch; einer hatte angefangen, die anderen wollten nicht zurückbleiben. Sie hatten diese Karten beim Abgange von der Universität machen lassen, wie sie es bei anderen gesehen, die Hälfte davon gegen diejenigen ihrer Freunde vertauscht, indem sie einander besuchten, wenn sie nicht zu Hause waren, die andere Hälfte war nun noch vorrätig, und obgleich hierzulande keine Visitenkarten abgegeben wurden, wenn die Leute nicht zu Hause waren, so trugen sie doch stets einige bei sich, wie die Habichte auf einen günstigen Zufall lauernd, wo sie eine derselben anbringen konnten. Jetzt hatten sie mit kühner Hand sich die Gelegenheit vom Zaun gebrochen und ohne weiteres die glänzenden Dinger hervorgeholt. Anna hielt sie anscheinend bewunderungsvoll in der Hand; auf einem stand Dr. med., auf dem andern Cand. jur., auf dem des Vikars V. D. M. Als Anna fragte, was letzteres bedeute, lag es mir auf der Zunge, zu sagen V er D ammter M ucker! Denn der arme junge Priester war zwar ein sogenannter freisinniger Theologe, hatte aber von der Universität eine bedenkliche ästhetische Muckerei heimgebracht. Er erklärte aber, es hieße Verbi Divini Minister. Nur der rationelle Landwirt besaß keine Karte; dafür zog er noch einmal seine Blase heraus, setzte sie klirrend auf den Tisch, grub einen Franken aus derselben hervor und warf denselben ohne alle Veranlassung einem Kinde hin. Ich bemerkte, daß dies von den Anwesenden sehr mißfällig angesehen wurde, und triumphierte nun vollkommen in meinem schadenfrohen Gemüte. Es kann mich aber vielleicht entschuldigen, daß alle vier sechs bis sieben Jahre älter als ich und schon gereist waren; auch haben sie seither nach ihrem Wunsche achtbare und vermögliche Frauen bekommen und sind ebenso tüchtige als geachtete junge Männer mit Ausnahme des Verbi Divini Minister, welcher einen schlimmen Handel bekam und außer Landes ging.
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