Indessen war die Ernte längst vorüber, und ich mußte an die Rückkehr denken. Mein Oheim wollte mich diesmal nach der Stadt bringen und zugleich seine Töchter mitnehmen, von denen die zwei jüngeren noch gar nie dort gewesen. Er ließ eine alte Kutsche bespannen, welche seit Menschengedenken im Wirtshause stand, und so fuhren wir davon, die Töchter in ihrem besten Staate, zum Erstaunen aller Dorfschaften, durch welche wir kamen. Der Oheim fuhr am gleichen Tage mit Margot zurück, Lisette und Caton blieben eine Woche bei uns, wo die Reihe an ihnen war, die Blöden und Schüchternen zu spielen, denn ich zeigte ihnen mit wichtiger Miene alle Herrlichkeiten der Stadt und tat, als ob mir dies alles gehörte. Nicht lange nachdem sie fort waren, kam eines Morgens ein leichtes Fuhrwerk vor unser Haus gerollt, und heraus stiegen der Schulmeister und sein Töchterchen, letzteres durch einen fliegenden grünen Schleier gegen die scharfe Herbstluft geschützt. Eine lieblichere Überraschung hätte mir gar nicht widerfahren können, und meine Mutter hatte die größte Freude an dem guten Kinde. Der Schulmeister wollte sich umsehen, ob für den Winter eine geeignete Wohnung zu finden wäre, indem er doch allmählich sein Kind mit der Welt mehr in Berührung bringen mußte, um ihre Anlagen nach allen Seiten sich entwickeln zu lassen. Es sagte ihm jedoch keine Gelegenheit zu, und er behielt sich vor, lieber im nächsten Jahre ein kleines Haus in der Nähe der Stadt zu kaufen und ganz überzusiedeln. Diese Aussicht erfüllte mich teils mit Freuden, teils aber hätte ich mir Anna doch lieber für immer als das Kleinod jener grünen entlegenen Täler gedacht, die mir einmal so lieb geworden. Indessen habe ich das heimliche Vergnügen, zu sehen, wie meine Mutter Freundschaft schloß mit Anna und wie diese ebenso tiefen Respekt als herzliche Zuneigung zu jener bezeigte und zu meiner allergrößten Genugtuung gern zu zeigen schien. Wir wetteiferten nun förmlich, ich, dem Schulmeister meine Achtung darzutun, und sie meiner Mutter, und über diesem angenehmen Streite fanden wir keine Zeit, miteinander selbst zu verkehren, oder wir verkehrten vielmehr nur dadurch miteinander. So schieden sie von uns, ohne daß ich mit ihr einen einzigen besondern Blick gewechselt hätte.
Nun rückte der Winter heran und mit ihm das Weihnachtsfest. Wöchentlich dreimal früh um fünf Uhr mußte ich in das Haus des Pfarrhelfers gehen, wo in einer langen schmalen riemenförmigen Stube an vierzig junge Leute zur Konfirmation vorbereitet wurden. Wir waren Jünglinge, wie man uns nun nannte, aus allen Ständen; am obern Ende, wo einige trübe Kerzen brannten, die Vornehmen und Studierenden, dann kam der mittlere Bürgerstand, unbefangen und mutwillig, und zuletzt, ganz in der Dunkelheit, arme Schuhmacherlehrlinge, Dienstboten und Fabrikarbeiter, etwas roh und schüchtern, unter denen nur dann und wann eine plumpe Störung vorfiel, während weiter oben man sich mit Geschicklichkeit fortwährend unruhig verhielt. Diese Ausscheidung war gerade nicht absichtlich angeordnet, sondern sie hatte sich von selbst gemacht. Wir waren nämlich nach unserm Verhalten und nach unserer Ausdauer geordnet; da nun die Vornehmsten von Haus aus zum äußern Frieden mit der Kirche streng erzogen wurden und die meiste Sicherheit im Sprechen besaßen und dies Verhältnis durch alle Grade herunterging, so war dem Scheine nach die Rangordnung ganz natürlich, besonders da die Ausnahmen sich dann von selbst zu ihresgleichen hielten und durchaus nicht sich unter die anderen Stände mischen wollten. Es geziemte sich auch, daß diejenigen, welche vermöge ihrer Verhältnisse darauf gewiesen waren, als Männer einst in der Kirche eine Stütze für ihre politischen und sozialen Grundsätze und einen Schutz für das »Eigenturn« zu finden, in dieser geweihten Werkstätte des Christentumes obenan saßen und sich aufmerksam verhielten, während dem gezeichneten Häuflein, welchem eingeprägt werden mußte, daß Christi Reich nicht von dieser Welt sei, zur heilsamen Übung auch hier der unterste Platz gebührte.
Schon das pünktliche Aufstehen und Hingehen am kalten dunklen Wintermorgen, an regelmäßigen Tagen, und das Hinsitzen an einen bestimmten Platz war mir unerträglich, da ich seit der Schulzeit dergleichen nicht mehr geübt. Nicht daß ich gänzlich unfügsam war für irgendeine Disziplin, wenn ich einen notwendigen und vernünftigen Zweck einsah; denn als ich zwei Jahre später meiner Militärpflicht genügen und als Rekrut mich an bestimmten Tagen auf die Minute am Sammelplatze einfinden mußte, um mich nach dem Willen eines versoffenen Exerziermeisters sechs Stunden lang auf dem Absatze herumzudrehen, da tat ich dies mit dem größten Vergnügen und war ängstlich bestrebt, mir das Lob des alten Kommißbruders zu erwerben. Allein hier galt es, sich zur Verteidigung des Vaterlandes und seiner Freiheit fähig zu machen; das Land war sichtbar, ich stand darauf und nährte mich von seiner Frucht. – Dort aber mußte ich mich gewaltsam aus Schlaf und Traum reißen, um in der düsteren Stabe zwischen langen Reihen einer Schar anderer schlaftrunkener Jünglinge das allerfabelhafteste Traumleben zu führen unter dem eintönigen Befehl eines weichlichen Schwarzrockes, mit dem ich sonst auf der Welt nichts zu schaffen hatte.
Was unter fernen östlichen Palmen vor Jahrtausenden teils sich begeben, teils von heiligen Träumern geträumt und niedergeschrieben worden war, ein Buch der Sage, zart und luftig und weise wie alle Sage, das wurde hier als das höchste und ernsthafteste Lebenserfordernis, als die erste Bedingung, Bürger zu sein, Wort für Wort durchgesprochen und der Glaube daran auf das genaueste reguliert. Die wunderbarsten Ausgeburten menschlicher Phantasie, bald heiter und reizend, bald finster, brennend und blutig, aber immer durch den Duft einer entlegenen Ferne gleichmäßig umschleiert, mußten als das wirklichste und festeste Fundament unseres ganzen Daseins angesehen werden und wurden uns nun zum letzten Male und ohne allen Spaß bestimmt erklärt und erläutert, zu dem Zwecke, im Sinne jener Phantasien ein wenig Wein und ein wenig Brot am richtigsten genießen zu können; und wenn dies nicht geschah, wenn wir uns dieser fremden wunderbaren Disziplin nicht mit oder ohne Überzeugung unterwarfen, so waren wir ungültig im Staate, und es durfte keiner nur eine Frau nehmen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert war dies so geübt, und die verschiedene Auslegung der poetischen Vorstellung hatte Schon ein Meer von Blut gekostet, der jetzige Umfang und Bestand unseres Staates war größtenteils eine Folge jener Kämpfe, so daß für uns die Welt des Traumes auf das engste mit der merklichsten und greifbarsten Wirklichkeit verbunden war. Was als geschichtliches Dokument vergangener Geistesträume von der größten poetischen Meisterschaft und künstlerischen Vernunftmäßigkeit war, wenn man es unbefangen betrachten durfte, das wurde als aufgedrungene gegenwärtige Realität mit einem Schlage zu einem beängstigenden Unsinn, und es ward mir zu Mute, wenn Ich den widerspruchlosen Ernst sah, mit welchem ohne Mienenverzug das Fabelhafte behandelt wurde, als ob von alten Leuten ein Kinderspiel mit Blumen getrieben würde, bei welchem jeder Fehler und jedes Lächeln Todesstrafe nach sieh zog.
Welchen Boden die ausgestreute Lehre in dem Herzen jedes einzelnen fand, war Nicht zu merken. Alle hatten von Kindheit auf die gleichen Worte und Bilder des Christentumes gehört, immer ein wenig deutlicher; alle fühlten jetzt, daß man nun das wahre Verständnis von ihnen verlange als ein Hauptkennzeichen ihrer Menschlichen Tauglichkeit und als eine Hauptbedingung ihrer Glückseligkeit, aber alle setzten dem beredten Lehrer ein farbloses und stummes Schweigen entgegen, durch ihre knappen Antworten nur dürftig unterbrochen. Die starrsinnigen Knüppelstirnen sowohl wie die glatten und heiteren, die engherzig schmalen und niederen wie die hohen freien Wölbungen, diejenigen Stirnen, welchen in der Mitte nur ein Knöpfchen fehlte, um ganz ein viereckiges Schublädchen vorzustellen, wie diejenigen, welche in edler Rundung eine ganze runde Welt abbildeten, alle waren in der gleichen kühlen Ruhe gesenkt; weder der künftige Freigeist noch der künftige Fanatiker gaben ein Zeichen ihrer Natur von sich, weil der größte Proselytenmacher, das Menschenschicksal, nicht mit in der Stube war. Doch waren alle einstweilen aufmerksam, und ich selbst merkte wohl auf die inneren christlichen Grundlehren, während ich auf das wunderbare Gewand derselben, auf die biblischen Gestaltungen der göttlichen Persönlichkeiten, nicht achtete, und ich weiß mich nicht einmal einer Zeit zu entsinnen, wo ich darauf geachtet oder angefangen hätte, nicht daran zu glauben. Desto mehr hatte ich in meinem Herzen gegen jenen innern Gehalt zu eifern, welcher uns einzig unter der Bedingung zu gut kommen sollte, daß wir an die äußere Gestalt glaubten, und mein Herz behauptete, daß es jenen Gehalt mit auf die Welt gebracht habe, soweit er brauchbar sei, und daß der Erlöser in ihm erwache, sobald nur ein zweites Herz hinzukomme. Meine unchristliche und ungeistliche Gesinnung war mir damals nicht klar, und ich hielt mich halb und halb selbst für unfromm und lachte dazu, indem ich dabei doch keinerlei Schuld empfand. Die Sache war aber die, daß ich schon lebhaft fühlte, daß jener angeborene und berechtigte Gehalt viel zu zarter Natur war, als daß er in eine Staatsreligion gespannt oder auch nur mit einem andern als dem schlechtweg menschlichen oder göttlichen Namen bezeichnet werden könnte.
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