Das erste, was meine Mutter begann, war eine gänzliche Einschränkung und Abschaffung alles Überflüssigen, wozu voraus jede Art von dienstbaren Händen gehörte. In der Stille dieses Witwentumes fand ich me n erstes deutliches Bewußtsein, welches seinen Inhaber zur Übung treppauf und – ab im Innern des Hauses umherführte. Die untern Stockwerke sind dunkel, sowohl in den Gemächern wegen der Enge der Gassen als auf den Treppenräumen und Fluren, weil alle Fenster für die Zimmer benutzt wurden. Einige Vertiefungen und Seitengänge gaben dem Raume ein düsteres und verworrenes Ansehen und blieben noch zu entdeckende Geheimnisse für mich; je höher man aber steigt, desto freundlicher und heller wird es, indem der oberste Stock, den wir bewohnen, die Nachbarhäuser überragt. Ein hohes Fenster wirft reichliches Licht auf die mannigfaltig gebrochenen Treppen und wunderlichen Holzgalerien des luftigen Estrichs, welcher einen heitern Gegensatz zu den kühlen Finsternissen der Tiefe bildet. Die Fenster unserer Wohnstube gehen auf eine Menge kleiner Höfe hinaus, wie sie oft von einem Häuserviertel umschlossen werden und ein verborgenes behagliches Gesumme enthalten, welches man auf der Straße nicht ahnt. Den Tag über betrachtete ich stundenlang das innere häusliche Leben in diesen Höfen; die grünen Gärtchen in denselben schienen mir kleine Paradiese zu sein, wenn die Nachmittagssonne sie beleuchtete und die weiße Wäsche in denselben wehte, und wunderfremd und doch bekannt kamen mir die Leute vor, welche ich darin gesehen hatte, wenn sie plötzlich einmal in unsrer Stabe standen und mit der Mutter plauderten. Unser eigenes Höfchen enthält zwischen hohen Mauern ein ganz kleines Stückchen Rasen mit zwei Vogelbeerbäumchen; ein nimmermüdes Brünnchen ergießt sich mit ewigem Geplätscher in ein ganz grün gewordenes Sandsteinbecken, und der ganze Winkel ist kühl und fast schauerlich, ausgenommen im Sommer, wo die Sonne gegen Abend einige Stunden lang darin ruht. Alsdann schimmert das verborgene Grün durch den dunklen Hausgang so kokett auf die Gasse, wenn die Haustür aufgeht, daß den Vorübergehenden immer eine Sehnsucht nach dem Freien befällt. Im Herbste werden diese Sonnenblicke immer kürzer und milder, und wenn dann die Blätter an den zwei Bäumchen gelb und die Beeren brennend rot werden, die alten Mauern so wehmütig vergoldet sind und das Wässerchen einigen Silberglanz dazugibt, so hat dieser kleine abgeschiedene Raum einen so wunderbar melancholischen Reiz, daß ich später noch oft aus der schönsten offenen Landschaft nach Hause gelaufen bin, wenn ich wußte, daß die Sonne jetzt in den Hof schien. Gegen Sonnenuntergang jedoch stieg meine Aufmerksamkeit an den Häusern in die Höhe und immer höher, je mehr sich das Meer von Dächern, das ich von unserm Fenster aus übersah, rötete und vom schönsten Farbenglanze belebt wurde. Hinter diesen Dächern war für einmal meine Welt zu Ende; denn den duftigen Kranz von Schneegebirgen, welcher hinter den letzten Dachfirsten halb sichtbar ist, hielt ich, da ich ihn nicht mit der festen Erde verbunden sah, lange Zeit für eins mit den Wolken. Als ich später zum ersten Male rittlings auf dem obersten Grate unseres hohen, ungeheuerlichen Daches saß und die ganze ausgebreitete Pracht des Sees übersah, aus welchem die Berge in festen Gestalten, mit grünen Füßen aufstiegen, da kannte ich freilich ihre Natur schon von ausgedehnteren Streifzügen im Freien; für jetzt aber konnte mir die Mutter lange sagen, das seien große Berge und mächtige Zeugen von Gottes Allmacht, ich konnte und mochte sie darum nicht von den Wolken unterscheiden, deren Ziehen und Wechseln mich am Abend fast ausschließlich beschäftigte, deren Name aber ebenso ein leerer Schall für mich war wie das Wort Berg. Da die fernen Schneekuppen bald verhüllt, bald heller oder dunkler, weiß oder rot sichtbar waren, so hielt ich sie wohl für etwas Lebendiges, Wunderbares und Mächtiges wie die Wolken und pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke oder Berg zu belegen, wenn sie mir Achtung und Neugierde einflößten. So nannte ich, ich höre das Wort noch schwach in meinen Ohren klingen, und man hat es mir nachher oft erzählt, die erste weibliche Gestalt, welche mir wohlgefiel und ein Mädchen aus der Nachbarschaft war, die weiße Wolke, von dem ersten Eindrucke, den sie in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte. Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweise ein langes hohes Kirchendach, das mächtig über alle Giebel emporragte, den Berg. Seine gegen Westen gekehrte große Fläche war für meine Augen ein unermeßliches Feld, auf welchem sie mit immer neuer Lust ruhten, wenn die letzten Strahlen der Sonne es beschienen, und diese schiefe, rotglühende Ebene über der dunklen Stadt war für mich recht eigentlich das, was die Phantasie sonst unter seligen Auen oder Gefilden versteht. Auf diesem Dache stand ein schlankes, nadelspitzes Türmchen, in welchem eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte. Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete, so sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte »Was ist Gott? ist es ein Mann?« und sie antwortete »Nein, Gott ist ein Geist!« Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten, das Licht klomm an dem Türmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich plötzlich des bestimmten Glaubens, daß dieser Hahn Gott sei. Er spielte auch eine unbestimmte Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kindergebeten, welche ich mit vielem Vergnügen herzusagen wußte. Als ich aber einst ein Bilderbuch bekam, in dem ein prächtig gefärbter Tiger ansehnlich dasitzend abgebildet war, ging meine Vorstellung von Gott allmählich auf diesen über, ohne daß ich jedoch, sowenig wie vom Hahne, je eine Meinung darüber äußerte. Es waren ganz innerliche Anschauungen, und nur wenn der Name Gottes genannt wurde, so schwebte mir erst der glänzende Vogel und nachher der schöne Tiger vor. Allmählich mischte sich zwar nicht ein klareres Bild, aber ein edlerer Begriff in meine Gedanken. Ich betete mein Vaterunser, dessen vollendet schöne Einteilung und Abrundung mir das Einprägen leicht und das Wiederholen zu einer angenehmen Übung gemacht hatte, mit großer Meisterschaft und vielen Variationen, indem ich diesen oder jenen Teil doppelt und dreifach aussprach oder nach raschem und leisem Hersagen eines Satzes den folgenden langsam und laut betonte und dann rückwärts betete und mit den Anfangsworten Vater unser schloß. Aus diesem Gebete hatte sich eine Ahnung in mir niedergeschlagen, daß Gott ein Wesen sein müsse, mit welchem sich allenfalls ein vernünftiges Wort sprechen ließe, eher als mit jenen Tiergestalten.
So lebte ich in einem unschuldig vergnüglichen Verhältnisse mit dem höchsten Wesen, ich kannte keine Bedürfnisse und keine Dankbarkeit, kein Recht und kein Unrecht und ließ Gott einen herzlich guten Mann sein, wenn meine Aufmerksamkeit von ihm abgezogen wurde.
Ich fand aber bald Veranlassung, in ein bewußteres Verhältnis zu ihm zu treten und zum ersten Mal meine menschlichen Ansprüche zu ihm zu erheben, als ich, sechs Jahre alt, mich eines schönen Morgens in einen großen, melancholischen Saal versetzt sah, in welchem etwa fünfzig bis sechzig kleine Knaben und Mädchen unterrichtet wurden. In einem Halbkreise mit sieben andern Kindern um eine Tafel herum stehend, auf welcher riesige Buchstaben gemalt waren, war ich sehr still und gespannt auf die Dinge, die da kommen sollten. Da wir sämtlich Neulinge waren, so hatte der Oberschulmeister, ein ältlicher Mann mit einem großen groben Kopfe, die erste Leitung selbst übernommen für eine Stunde und forderte uns auf, abwechselnd die sonderbaren Figuren zu benennen. Ich hatte schon seit geraumer Zeit einmal das Wort Pumpernickel gehört, und es gefiel mir ungemein, nur wußte ich durchaus keine leibliche Form dafür zu finden, und niemand konnte mir eine Auskunft geben, weil die Sache, welche diesen Namen führt, einige hundert Stunden weit zu Hause war. Nun sollte ich plötzlich das große P benennen, welches mir in seinem ganzen Wesen äußerst wunderlich und humoristisch vorkam, und es ward in meiner Seele klar, und ich sprach mit Entschiedenheit »Dieses ist der Pumpernickel!« Ich hegte keinen Zweifel, weder an der Welt noch an mir, noch am Pumpernickel, und war froh in meinem Herzen; aber je ernsthafter und selbstzufriedener mein Gesicht in diesem Augenblicke war, desto mehr hielt mich der Schulmeister für einen durchtriebenen und frechen Schalk, dessen Bosheit sofort gebrochen werden müßte, und er fiel über mich her und schüttelte mich an den Haaren eine Minute lang so wild hin und her, daß mir Hören und Sehen verging. Dieser Überfall kam mir seiner Fremdheit und Neuheit wegen wie ein böser Traum vor, und ich machte augenblicklich nichts daraus, als daß ich, stumm und tränenlos, aber voll innerer Beklemmung den Mann ansah. Die Kinder haben mich von jeher geärgert, welche, wenn sie gefehlt haben oder sonst in Konflikt geraten, bei der leisesten Berührung oder schon bei deren Annäherung in ein abscheuliches Zetergeschrei ausbrechen, das einem die Ohren zerreißt; und wenn solche Kinder gerade dieses Geschreies wegen oft doppelte Schläge bekommen, so litt ich am entgegengesetzten Extrem und verschlimmerte meine Händel stets dadurch, daß ich nicht imstande war, eine einzige Träne zu vergießen vor meinen Richtern. Als daher der Schulmeister sah, daß ich nur erstaunt nach meinem Kopfe langte, ohne zu weinen, fiel er noch einmal über mich her, um mir den vermeintlichen Trotz und die Verstocktheit gründlich auszutreiben. Ich litt nun wirklich; anstatt aber in ein Geheul auszubrechen, ward es zum zweiten Male in mir klar, und ich rief flehentlich in meiner Angst »Sondern erlöse uns von dem Bösen!« und hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir so oft gesagt hatte, daß er dem Bedrängten ein hilfreicher Vater sei. Für den guten Lehrer aber war dies zu stark, der Fall war nun zum außerordentlichen Ereignisse gediehen, und er ließ mich daher stracks los, mit aufrichtiger Bekümmernis darüber nachdenkend, welche Behandlungsart hier angemessen sei. Wir wurden für den Vormittag entlassen, der Mann brachte mich selbst nach Hause. Erst dort brach ich heimlich in Tränen aus, indem ich abgewandt am Fenster stand und die ausgerissenen Haare aus der Stirn wischte, während ich anhörte, wie der Mann, der mir im Heiligtum unserer Stube doppelt fremd und feindlich erschien, eine ernsthafte Unterredung mit der Mutter führte und versichern wollte, daß ich schon durch irgendein böses Element verdorben sein müßte. Sie war nicht minder erstaunt als wir beiden andern, indem ich, wie sie sagte, ein durchaus stilles Kind wäre, welches bisher noch nie aus ihren Augen gekommen sei und keine groben Unarten gezeigt hätte. Allerlei seltsame Einfälle hätte ich allerdings bisweilen; aber sie schienen nicht aus einem schlimmen Gemüte zu kommen, und, meinte sie ganz vernünftig, ich müßte mich wohl erst ein wenig an die Schule und ihre Bedeutung gewöhnen. Der Lehrer gab sich zufrieden, doch mit Kopfschütteln, und war innerlich überzeugt, wie sich aus wiederholten Fällen ergab, daß ich gefährliche Anlagen zeige. Er sagte auch sehr bedeutsam beim Abschiede, daß stille Wasser gewöhnlich tief wären. Dieses Wort habe ich seither in meinem Leben öfter hören müssen, und es hat mich immer gekränkt, weil es keinen größern Plauderer gibt als mich, wenn ich mit jemand zutraulich bin. Ich habe aber bemerkt, daß viele Menschen, welche immer das große Wort führen, aus denen nie klug werden, welche ihretwegen nie zu Worte kommen. Sie pflegen dann plötzlich einmal sich über das Schweigen zu verwundern und zur Teilnahme aufzufordern; ehe aber diese laut werden kann, haben sie schon wieder das Wort genommen und auf ein anderes Gebiet geführt, und wenn sie einmal einer Antwort Raum geben, so verstehen sie die einfache und kurze Logik nicht, an welche sich der Schweigende bei seinem Zuhören gewöhnt hat. Die meisten Gesellschaften lassen in ihrem Gespräche nicht so viel Raum für ein einzuschaltendes Wort, daß man mit einer Nähnadel dazwischenstechen könnte. Es gibt keinen Menschen, welcher nicht das Bedürfnis der Mitteilung empfände; nur muß man sich soweit entäußern können, zuweilen in seine Weise einzugehen und ihm die Fesseln zu lösen. Unter den Erwachsenen ist der Mangel dieser Kunst kein so großer Übelstand, und die ans Schweigen Gewiesenen befinden sich manchmal nur um so gemütlicher dabei. Im Umgange mit stillen Kindern aber kann es ein wahres Unglück werden, wenn die großen Schwätzer sich nicht anders zu helfen wissen als mit dem elenden Gemeinplatze Stille Wasser sind tief!
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