Zu diesen so ganz entgegengesetzten Aufregungen der Tage und der Nächte kamen diesen Sommer noch verschiedene Auftritte im ländlichen Familienleben, welche bei aller Einfachheit doch den gewaltigen Wechsel des Lebens und sein unaufhaltsames Vorübergehen ins Licht stellten. Der Haushalt des jungen Müllers ließ seine Heirat nicht länger aufschieben, und es wurde also eine dreitägige Hochzeit gefeiert, bei welcher die spärlichen Überreste städtischen Gebrauches, so die Braut aus ihrem Hause mitbrachte, gar jämmerlich dem ländlichen Pomp unterliegen mußten. Die Geigen schwiegen nicht während der drei Tage; ich ging jeden Abend hin und fand Judith festlich geschmückt unter dem Gedränge der Gäste; ein und das andere Mal tanzte ich bescheiden und wie ein Fremder mit ihr, und auch sie hielt sich zurück, obgleich wir während der geräuschvollen Nächte Gelegenheit genug hatten, uns unbemerkt nahe zu sein. Aber erst dadurch empfand ich recht, welch ein zwingender Reiz in einem solchen Doppelleben und welch ein Zauber in dem Geheimnis liegt; ich war innerlich wie berauscht, und die schöne Judith sah es wohl und bewegte sich um so ruhiger und mit allen Leuten lachend, plaudernd herum, wobei es mir doch wohlgefiel, daß sie im geheimen doch auch ernster und leidenschaftlich bewegt schien. Alles war mir wie ein Märchen; die Geigen und die Gläser klangen, die Leute sangen und tanzten, überall faßte man sich bei den Händen und lachte sich an, und wenn mich soeben ein lustiges Mädchen gestellt und angeredet und ich schweigend etwa das goldene Herzchen, das ihr vor der klopfenden Brust tanzte, in die Hand genommen und von allen Seiten beschaut, bis sie mir auf die Finger schlug, so ging ich um so nachdenklicher weiter. Dann kam die glückliche Braut, welche der Reihe nach mit aller Welt einer geheim vertraulichen Unterhaltung pflag, zog auch mich beiseite, fragte, warum ich nicht lustiger sei, und versicherte mir angelegentlich, daß ich ein guter Junge und ihr sehr lieb sei. Ich ward gerührt und betroffen und mußte mich von ihr wenden, da mir die Tränen nahe waren, ohne daß ich eigentlich wußte, warum, und sie noch weniger. Noch tiefer fühlte ich mich betroffen, als ich an einem der Tage meine Mutter, welche auf ein halbes Stündchen erschienen war, fortbegleitete und plötzlich aus dem Lärm und Gedränge der Hochzeit heraus mich auf die stillen grünen Sommerpfade versetzt sah. Meine Mutter war so ruhig, zufrieden und gesprächig im Gefühle der erfüllten Pflicht und eines immer gleichen anspruchlosen Lebens, daß mein leidenschaftlich bewegtes Treiben im grellsten Lichte dagegen abstach und ich, obgleich ich nun schon ein anderes Sittengesetz zu kennen glaubte als das überkommene, mir den Gedanken nicht verwehren konnte, daß ich sie mit dem hintergehe, wovon sie keine Ahnung hatte.
Kaum war die Hochzeit vorüber, so erkrankte die Muhme, welche noch nicht funfzig Jahre alt war, und starb in Zeit von drei Wochen. Sie war eine starke und gesunde Frau, daher ihre Todeskrankheit um so gewaltsamer, und sie starb sehr ungern. Sie litt heftig und unruhig und ergab sich erst in den letzten zwei Tagen, und an dem Schrecken, der sich im Hause verbreitete, konnte man erst sehen, was sie allen gewesen. Aber wie nach dem Hinsinken eines guten Soldaten auf dem Felde der Ehre die Lücke schnell wieder ausgefüllt wird und der Kampf rüstig fortgeht, so erwies sich die Art des Lebens und des Todes dieser tapferen Frau auch auf das schönste dadurch, daß die Reihen ohne Lamentieren rasch sich schlossen, die Kinder teilten sich in Arbeit und Sorge und versparten den beschaulichen Schmerz bis auf die Tage, wo geruht und wo ihnen der Verlust ihrer Mutter erst ein schweres Wahrzeichen des Lebens werden wird. Nur der Oheim äußerte erst einige tiefere Klagen, faßte diese aber bald in das Wort »meine selige Frau« zusammen, das er nun bei jeder Gelegenheit anbrachte. An dem Leichenbegängnisse sah ich Judith unter den fremden Frauen. Sie trug ein städtisches schwarzes Kleid bis unter das Kinn zugeknöpft, sah demütig auf den Boden und ging doch hoch und stolz einher.
Wenige Wochen später erschien der junge philosophische Schullehrer im Hause und bewarb sich unversehens um die jüngste Tochter. Die Jungen wußten zwar schon längst, daß die beiden sich leidenschaftlich verbunden; allein dem Vater kam es ganz unerwartet, und man sah nun an seinem Erstaunen und an seinem Unwillen, den er wenig verhehlte, welch ein unwillkommener Gast er bei allem Scherz für eine engere Verbindung war. Der Oheim wies ihn ab oder wenigstens auf die Zukunft, wegen des kürzlichen Todes seiner Frau und weil er auch deswegen jetzt keine Tochter mehr entbehren könne, am wenigsten die jüngste. Doch der Philosoph gab sich nicht zufrieden, sondern wandte ein, daß er, zum Oberlehrer vorgerückt, nun einen eigenen Haushalt zu führen und eine Frau zu haben wünsche, überhaupt er kein Hindernis sehe zu heiraten, da er und das Mädchen einverstanden seien. Hierauf setzte er eine lange Denkschrift auf, in welcher er durch philosophische und rechtliche Gründe seine Sache verteidigte, mit großer Logik vom naturrechtlichen Standpunkt aus in die verwickelteren Verhältnisse unseres Land- und Familienrechtes überging und alle Konsequenzen in Aussicht stellte, welche er zu benutzen oder hervorzurufen wissen werde. Alles war in den kunstreichsten und ernsthaftesten Phrasen abgefaßt, und er erschien mit der Schrift und las dieselbe nach verlangter Erlaubnis mit seinem Silberstimmchen vor. Der Vater und die Söhne, welche letztere durch sein rücksichtsloses Benehmen nun auch gegen ihn eingenommen waren, glaubten nun ihre Sache gewonnen und entschieden, da sie, besonders wenn sie das immer noch zierliche Miniaturgesichtchen des Philosophen ansahen, einer so spaßhaften Wendung unmöglich eine ernste Folge zuschreiben mochten. Aber sie täuschten sich sehr. Sie warfen ihn zwar aus dem Hause, wobei sie auf das Schwesterchen keine große Rücksicht nahmen, allein der seltsame Werber verklagte sie sogleich und begann einen Prozeß um sein Recht, den er mit solcher Konsequenz und Energie durchführte, daß der Oheim entrüstet und aufgeregt schon auf halbem Wege erklärte, das Kind könne laufen, wohin es wolle. Noch glaubte man, das junge Mädchen, das man immer noch als Kind anzusehen gewohnt war, würde jetzt wenigstens noch eine Zeit bleiben, bis es im Frieden gehen könne, und man konnte seinen Abfall von der Familie nicht begreifen und schrieb denselben einem störrischen und mangelhaften Herzen zu; aber es kümmerte sich nicht darum, sah nicht Vater noch Schwestern und Brüder und kaum das Grab seiner Mutter an und zog ohne Aussteuer, ohne Sang und Klang mit dem Philosophen aus dem Dorfe. Mit Verwunderung sah ich, wie Logik und Leidenschaft im Bunde in noch so jungen Köpfchen wohl soviel Bewegung verursachen können als Erfahrung und gereifter Wille der Alten. Denn das Philosöphchen hatte sich vorgenommen, streng nach seiner Vernunft und seinem Naturrechte zu handeln, und auch seine Handlungen ganz in diesem Sinne durchgeführt, so daß er sich unter der ganzen Lehrerschaft ein großes Ansehen erwarb, als ein Besieger des Vorurteils, während das Mädchen durch seine unerwartete und rücksichtslose Leidenschaft, für die es auf der ganzen Welt keine Richtschnur mehr gab als der Wille des Geliebten, weitherum ein wunderliches Aufsehen erregte.
So war in kurzer Zeit die Gestalt des oheimlichen Hauses verändert und durch die verschiedenen Vorgänge alles älter und ernster geworden. Von der traurigen Schaubühne ihres Krankenbettes sah die arme Anna alle diese Veränderungen, aber schon mehr als äußerlich getrennt von den Ereignissen. Sie hatte eine geraume Zeit im gleichen Zustande verharrt, und alle hofften, daß sie am Ende wieder aufleben würde. Aber da man es am wenigsten dachte, erschien eines Morgens im Herbste der Schulmeister schwarz gekleidet bei dem Oheim, welcher selbst noch schwarz ging, und verkündete ihren Tod.
Читать дальше