»Da haben Sie ganz recht«, sagte Heinrichs Begleiter und gab ihm die Hand, »auch ich bin vielleicht am wenigsten im Fall, mit Ihnen zu streiten. Und was führt Sie denn, wenn ich fragen darf, nach unserm monarchischen Deutschland? Dem Anscheine nach sind Sie entweder Student oder ein junger Künstler?«
»Beides zusammen, wenn Sie wollen! letzteres im engern Sinne, ersteres überhaupt, insofern ich mir in der Mitte meines großen Stammvolkes selbst seine geistigen Errungenschaften aneignen und diejenigen allgemeinen Grundlagen und Anschauungen erwerben möchte, welche nur bei großen Sprachgenossenschaften zu finden sind und ohne welche es der einzelne zu nichts Ganzem und Höherm bringen kann.«
»Wie, eure schweizerische Nationalität genügt euch also doch nicht für den Hausgebrauch in allen Dingen? Sie gibt euch keine Ideen für ein höheres Bedürfnis?«
»Jedes Ding hat zwei Seiten, mein Herr! und, wie ich glaube, auch die Nationalität, oder was man so nennen mag. Man kann ein sehr guter Hausvater, ein anhänglicher, pflichtgetreuer Sohn sein und doch das entsprechende Gebiet für verschiedene Bedürfnisse und Fähigkeiten außer dem Hause suchen und finden. Und wie die Familie die sicherste, trostreichste Zuflucht ist nach jeder Abschweifung und Irrfahrt, so ist das Vaterland, wenn seine Grenzen einen natürlichen Zusammenhang haben und wenn es zudem noch den sichern Schoß eines aufgeweckten und vergnüglichen bürgerlichen Lebens bildet, der erste und letzte Zufluchtsort für alle seine besseren Kinder, und je ungleicher diese sich an Stamm und Sprache manchmal sind, desto fester ziehen sie sich, nach gewissen Gesetzen, gegenseitig an, freundlich zusammengehalten durch ein gemeinsam durchgekämpftes Schicksal und durch die erworbene Einsicht, daß sie zusammen so, wie und wo sie nun sich eingerichtet haben, am glücklichsten sind. Eine solche Lage ist die unsrige. Um einen uralten Kern hat sich nach und nach eine mannigfaltige Genossenschaft angesetzt, welche die Überlieferungen desselben, soweit sie in ihrer Bedeutung noch lebendig sind, mit aufnahm und sich bestrebt, sie fortwährend in gangbare Münze umzusetzen. Ähnliche Neigungen in der durchweg ähnlichen, schönen Landschaft, eine Menge nachbarlicher Berührungen bei der gemeinsamen Zähigkeit, den Boden unabhängig zu erhalten, haben ein von jedem andern Nationalleben unterschiedenes Bundesleben hervorgebracht, welches allen seinen Teilnehmern wieder einen gleichmäßigen Charakter bis in die feineren Schattierungen der Sitten und Sinnesart verliehen hat. Und je mehr wir uns in diesem Zustande geborgen glauben vor der Verwirrung, die uns überall umgibt, je mehr wir die träumerische Ohnmacht der altersgrauen großen Nationalerinnerungen, welche sich auf Sprache und Farbe der Haare stützen, rings um uns zu erkennen glauben, desto hartnäckiger halten wir an unserm schweizerischen Sinne fest. So kann man wohl sagen, nicht die Nationalität gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in diesen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigentümliche Nationalität zu ihrer Verkörperung geschaffen.«
»Ich kann mich nun«, versetzte der Graf, »allerdings schon leichter in dieses sonderbare Nationalgefühl hineindenken, muß aber um so eher darauf bestehen, daß die Schweizer folgerechterweise auch einer ebenso eigentümlichen, aus ihren Verhältnissen erwachsenden Geisteskultur bedürfen sollten!«
»Das ist eben die andere Seite! Es gibt zwar viele meiner Landsleute, welche an eine schweizerische Kunst und Literatur, ja sogar an eine schweizerische Wissenschaft glauben. Das Alpenglühen und die Alpenrosenpoesie sind aber bald erschöpft, einige gute Schlachten bald besungen, und zu unserer Beschämung müssen wir alle Trinksprüche, Mottos und Inschriften bei öffentlichen Festen aus Schillers Tell nehmen, welcher immer noch das Beste für dieses Bedürfnis liefert. Und was die Wissenschaft betrifft, so bedarf diese gewiß noch weit mehr des großen Weltmarktes und zunächst der in Sprache und Geist verwandten größeren Völker, um kein verlorener Posten zu sein. Der französische Schweizer schwört zu Corneille, Racine und Moliere, zu Voltaire oder Guizot, je nach seiner Partei, der Tessiner glaubt nur an italienische Musik und Gelehrsamkeit, und der deutsche Schweizer lacht sie beide aus und holt seine Bildung aus den tiefen Schachten des deutschen Volkes. Alle aber sind bestrebt, alles nur zur größeren Ehre ihres Landes zurückzubringen und zu verwenden, und viele geraten sogar über diesem Bestreben in ein gegen die Quellen undankbares und lächerliches Zopftum hinein.«
»Es ist vielleicht«, wandte Heinrichs Begleiter ein, »ein unbescheidener Mißbrauch, welchen ich mit einem wackern Volke treiben möchte, wenn ich auf meiner alten Behauptung beharre und sogar wünsche, daß ihr es einmal versuchsweise darauf anlegtet, in allen Dingen ganz selbständig und naturwüchsig zu sein und ganz auf eurem Boden eine eigene Weisheit zu pflegen. Dem Lande wie seiner Verfassung eigenst angemessen, müßte gewiß etwas Frisches und für uns andere Erbauliches zustande kommen. Sie würden vielleicht umkehren, junger Mann, wenn Sie wüßten, wie sich bei uns großen Nationen die Bildung im ewigen Kreise herumdreht, wie einflußlos unsere Heroen, die in jedermanns Munde sind, an unserm innersten Herzen vorübergehen und wie bis zur dumpfen Verzweiflung sich Ungeschmack und Unsinn jeden andern Tag wieder so breit macht, als wäre er nie überwunden worden!«
Mit diesen Worten stieß der Graf einen ziemlichen Seufzer aus; Heinrich aber schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein, nein! erstens tun Sie sich selbst unrecht, und zweitens können wir uns doch nicht abschließen! Zu einer guten patriotischen Existenz braucht es jederzeit nicht mehr und nicht weniger Mitglieder, als gerade vorhanden sind. Mit den Kulturdingen ist es anders; da sind vor allem gute Einfälle, soviel als immer möglich, notwendig, und daß deren in vierzig Millionen Köpfen mehrere entstehen als nur in zwei Millionen, ist außer Zweifel!«
»Das ist freilich ein praktischer und triftiger Grund!« sagte der Graf mit herzlichem Lachen, »ich will Ihnen ferner auch nichts einwenden und wünsche Ihrer Jugend wie Ihren Hoffnungen das beste Gedeihen. Es sollte mich recht freuen, später einmal zu erfahren, wie Sie Ihre Rechnung befunden haben. Ich verlasse mich auch darauf; denn wenn man mit so klarem, schönem Willen in die Welt geht, so wird man gewiß etwas aus sich machen!«
Da die friedlich wackelnde Kutsche an einem Haltorte der Eisenbahn angekommen war und in demselben Augenblicke auch ein mächtiger Wagenzug heranpfiff, so stiegen sie nun aus und nahmen Abschied, indem der Graf, seinen jungen Gefährten mit fast wehmütiger Teilnahme ansehend, ihm noch ein freundliches »Aufs Wiedersehen« nachrief. Heinrich drängte sich noch mit seinem Gepäcke unter den Leuten umher, um seinen Platz in der dritten Klasse aufzufinden, während der vornehme Herr schon in einem bequemen und prächtigen Coupe der ersten Klasse sich ganz allein ausstreckte. Er rutschte aber unruhig hin und her und sagte zu sich selbst »Wunderliches Verhältnis! Da würde ich nun gern mit diesem muntern Jungen weiterplaudern, aber der Unterschied unserer Geldbeutel reißt uns auseinander, und ich darf ihm keinen Platz bei mir anbieten, während ich zu weichlich bin, mich unter das Volk hinauszusetzen! Doch was hindert mich eigentlich daran?« Und schon wollte er wieder aussteigen, als der Zug sich mit einem grellen Pfiff in Bewegung setzte und bald über das Feld hinglitt, die Sonne im Rücken lassend.
Dieselbe näherte sich bei der Ankunft in der großen Hauptstadt, dem Reiseziele Heinrichs, schon ihrem Untergange und vergoldete mit ihren letzten Strahlen die weite Ebene samt der Stadt mit ihren Steinmassen und Baumwipfeln. Heinrich hatte kaum seine Sachen in einem Gasthofe untergebracht, so lief er ungeduldig wieder auf die Straße und stürzte sich unter das Wogen und Treiben der Stadt.
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