Bald jedoch erhielten sie den Beweis, daß sie noch immer nicht dem Bann der ›Heiligen‹ entflohen waren. Sie hatten eben die ödeste und wildeste Stelle des Gebirgspasses erreicht, als Lucy mit einem Ausruf des Schreckens nach oben deutete. Auf einem Felsvorsprung, der den Pfad beherrschte und sich klar gegen den Himmel abhob, stand ein einsamer Wachtposten. Er hatte die Reiter gleichfalls bemerkt und seine Frage: »Wer geht da?« klang herausfordernd durch die stille Schlucht.
»Reisende nach Nevada,« rief Jefferson Hope, die Hand an der Flinte, welche am Sattel hing.
»Mit wessen Erlaubnis?« schallte es von oben herunter.
»Der heiligen Vier,« gab Jefferson zur Antwort. Er wußte von seinem Aufenthalt bei den Mormonen, daß dies die höchste Obergewalt sei.
» Neun und sieben !« rief die Schildwache.
» Sieben und fünf !« entgegnete Jefferson rasch, sich der Losung erinnernd, die er im Garten gehört hatte.
»Passiert – der Herr sei mit euch!« ertönte es von der Felsspitze.
Bald darauf war der Weg breiter und die Pferde konnten sich in Trab setzen. Noch einmal sahen sie zurück nach dem einsamen Wächter, der sein Gewehr im Arm, an dem Felsen lehnte. Sie wußten, daß sie den letzten Posten der Mormonen hinter sich hatten und die Freiheit vor ihnen lag.
Inhaltsverzeichnis
Die ganze Nacht hindurch wanderten die Flüchtlinge über felsiges Gestein und durch die verschlungensten Pfade. Kamen sie auch öfters vom Wege ab, so wußte sich doch Jefferson, bei seiner genauen Kenntnis des Gebirges, immer wieder zurecht zu finden. Beim Morgengrauen enthüllte sich ihnen ein Schauspiel von wilder, aber wunderbarer Schönheit. In der weiten Runde sahen sie sich ringsum von hohen, schneebedeckten Berggipfeln eingeschlossen, die bis zu unabsehbaren Fernen neben und über einander emporragten. Droben im Gestein wurzelten Lärchen-und Fichtenbäume, die der nächste Windstoß von den steilen Felswänden auf ihre Häupter herabschleudern konnte; es lagen Steintrümmer und Baumstämme genug unten im Thal verstreut, zum Zeichen, daß ein solcher Absturz wohl zu fürchten sei. Eben jetzt löste sich wieder ein großes Felsstück und fiel donnernd in die Tiefe; erschreckt fuhren die müden Pferde auf und setzten sich in schärferen Trab.
Nun stieg die Sonne über den östlichen Horizont und entzündete die Berggipfel wie Lampen bei einem Fest, einen nach dem andern, bis sie alle glühten und leuchteten. Es war ein Anblick von solcher Erhabenheit, wie ihn die Flüchtlinge noch nie geschaut; er erfreute ihre Herzen und stärkte sie mit neuer Kraft und Zuversicht. Am Ufer eines Wildbaches, der aus der Schlucht hervorbrauste, machten sie bald darauf Halt, tränkten ihre Pferde und nahmen ein hastiges Mahl ein. Lucy und ihr Vater hätten gern eine Weile gerastet, aber Jefferson gab das nicht zu. »Sie sind uns jetzt gewiß schon auf der Spur,« sagte er; »Eile thut vor allem not. Erst wenn wir sicher in Carson angelangt sind, dürfen wir daran denken, der Ruhe zu pflegen.«
Den ganzen Tag lang ging es weiter durch Hohlwege und Schluchten; am Abend mußten sie nach ihrer Berechnung weit mehr als dreißig Meilen zurückgelegt haben. Erschöpft suchten sie nun unter einer vorspringenden Klippe Schutz vor dem kühlen Nachtwind, schmiegten sich fest aneinander, um sich zu erwärmen und gönnten sich einige Stunden Schlaf. Bis jetzt hatten sie nicht das geringste Anzeichen einer Verfolgung entdeckt und Jefferson Hope glaubte schon, dem grimmigen Feinde glücklich entronnen zu sein. Ach, er ahnte nicht, wie weit dessen gefürchteter Arm reichte, und wie bald er sich ausstrecken würde, um sie erbarmungslos zu zerschmettern.
Um die Mittagszeit des zweiten Tages ihrer Flucht begann ihr geringer Vorrat von Lebensmitteln auf die Neige zu gehen. Dem Jäger machte das wenig Sorge; es mangelte nicht an Wildpret im Gebirge und seine Flinte hatte ihm schon öfters die nötige Nahrung verschafft. An einer geschützten Stelle häufte er trockene Zweige auf und zündete ein mächtiges Feuer an, damit sich Vater und Tochter wärmen könnten, denn sie befanden sich jetzt in einer Höhe von 5000 Fuß über dem Meeresspiegel und die Luft wehte scharf und kalt. Jefferson band die Pferde fest, nahm Abschied von Lucy, warf die Flinte über die Schulter und zog aus, um sein Waidmannsglück zu versuchen. Als er sich noch einmal umwandte, sah er den Alten neben dem jungen Mädchen am Feuer sitzen und im Hintergrunde die drei Reitpferde, bewegungslos, wie aus Stein gehauen. Schon im nächsten Augenblick hatten die Felsen ihm das Bild verdeckt.
Mehrere Meilen wanderte er von Schlucht zu Schlucht, ohne auf eine Beute zu stoßen, wiewohl er aus mancherlei Anzeichen erkannte, daß Bären in der Nähe sein mußten. Schon wollte er nach mehrstündigem fruchtlosem Suchen unverrichteter Sache zurückkehren, als er zu seiner Freude auf einem Felsvorsprung, um einige hundert Fuß über der Stelle, an der er stand, den gewaltigen Kopf eines Dickhorns gewahrte, jenes wilden Bergschafes, das sich herdenweise in diesen Höhen findet. Rasch warf sich Jefferson zu Boden, stützte sein Schießgewehr auf einen Steinblock, zielte lange und gab Feuer. Das Tier that einen Sprung in die Luft, schwankte einen Augenblick am Rande des Abgrunds und stürzte dann jäh ins Thal hinab, wohin Jefferson eilig nachkletterte. Die ganze Beute fortzuschaffen war unmöglich, der Jäger mußte sich begnügen, mit seinem Jagdmesser einen Schenkel des Tieres abzuschneiden und auf seine Schulter zu laden. Nachdem dies geschehen, machte er sich ohne Zaudern auf den Rückweg, – aber das war kein leichtes Beginnen. Der Abend brach schon herein und in dem ungewissen Dämmerlicht war es schwer, sich zurecht zu finden, denn das Thal verzweigte sich in viele Schluchten, die alle einander zum Verwechseln ähnlich sahen. Mühsam war Jefferson in der einen Schlucht emporgeklommen, als ihm ein Bergstrom entgegenschoß und seinen Weg hemmte; nun ging er zurück und wählte einen andern Aufstieg, aber ohne bessern Erfolg. Es war bereits Nacht geworden, als er endlich an einen Hohlweg gelangte, der ihm bekannt vorkam. Abermals kletterte er zwischen den steilen Felswänden aufwärts mit seiner Last. Der Pfad lag im tiefsten Dunkel, denn der Mond war noch nicht aufgegangen, und Jefferson strauchelte oft auf dem rauhen Wege; doch der Gedanke, daß er mit jedem Schritt seiner geliebten Lucy naher kam, trieb ihn rastlos weiter; auch brachte er ja genug Vorrat mit, um sie während der ganzen Dauer der Flucht vor Mangel zu schützen. Auf der Höhe angekommen, ward er zu seiner Freude gewahr, daß er von der Stelle, wo er seine Schutzbefohlenen verlassen hatte, nicht mehr allzufern sei; schon erkannte er, trotz der Finsternis, die schwachen Umrisse der Felsspitzen am Eingang der Schlucht. Fast fünf Stunden war er fortgeblieben – mit wie banger Sehnsucht mochten sie ihn erwarten. Um seine glückliche Rückkehr zu verkünden, rief er ein lautes Hallo! in die Berge hinein. Dann stand er lauschend da, ob keine Antwort käme, aber nur der Ton seiner eigenen Stimme schallte in vielfachem Wiederhall von den Bergen; sonst blieb alles still. Noch stärker und dringender ertönte jetzt sein Ruf, aber kein Laut aus geliebtem Munde hieß ihn willkommen. Von unbestimmter Angst ergriffen, ließ er die schwer errungene Beute zu Boden fallen und stürmte wie rasend vorwärts.
Jetzt bog er um die Ecke und vor ihm lag der Platz, wo er das Feuer angezündet hatte. Noch glühte der Aschenhaufen, aber man hatte kein Holz zugelegt und die Flamme war erloschen. Ringsumher herrschte Todesschweigen. Seine Furcht ward zur Gewißheit; nirgends ließ sich ein lebendes Wesen erblicken – die Pferde, das Mädchen, der Alte, waren spurlos verschwunden. Das Unheil mußte während seiner Abwesenheit urplötzlich hereingebrochen sein, zu ihrer aller Verderben.
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