Dies war der Ausblick, der sich am vierten Mai des Jahres 1847 einem einsamen Wanderer darbot, welcher von einer kleinen Anhöhe ins Thal hinabsah. Ob der Mann ein Vierziger oder Sechziger war, ließ sich schwer entscheiden. Sein eingefallenes, abgezehrtes Gesicht, die vorstehenden Backenknochen, die braune runzlige Haut, das lange, wie mit weißen Fäden durchzogene Haupt-und Barthaar, gaben ihm das Ansehen eines hinfälligen Greises. Seine Augen, die mit unnatürlichem Glanz funkelten, lagen tief in den Höhlen, die Hand, welche die Flinte hielt, war dürr und abgemagert wie bei einem Gerippe, seine Kleider schlotterten ihm am Leibe. Und doch, wie er so dastand, auf die Waffe gelehnt, ließ seine hohe, starkknochige Gestalt auf eine zähe, urkräftige Natur schließen. Das hagere Gesicht, die zusammengeschrumpften Glieder, verrieten nur zu deutlich den Grund seines verfallenen Aussehens. Der Mann war dem Tode nahe – er kam langsam um vor Hunger und Durst.
Mühselig hatte er sich in die Schlucht hinuntergeschleppt und den Hügel hinauf, in der vergeblichen Hoffnung, irgend ein Anzeichen zu entdecken, daß Wasser in der Nähe sei. Jetzt lag die große Salzwüste vor ihm, von der fernen Bergkette eingerahmt, rings umher weder Baum noch Kraut, keine Spur einer Feuchtigkeit. Er schaute nach Norden, nach Osten und Westen mit gierigen Blicken, aber wie weit sich das Land auch dehnte, nirgends war für ihn ein Schimmer von Hoffnung. Nun sah er ein, daß seine Wanderung ihr Ende erreicht habe, und er hier auf der öden Klippe seine Todesstunde erwarten müsse. »Ob jetzt auf hartem Stein, oder zwanzig Jahre später im weichen Bett – es macht wenig Unterschied,« murmelte er, sich an die Felswand lehnend.
Ehe er sich niedersetzte, hatte er zuvor seine Flinte auf den Boden gelegt und daneben ein großes Bündel, das er in einem grauen Shawl eingeknüpft über der rechten Schulter getragen. Das Bündel schien zu schwer für seine geschwächten Kräfte und fiel etwas unsanft zur Erde, als er es abnahm. Da ließ sich ein leiser Schmerzensschrei vernehmen und aus der grauen Umhüllung kam ein erschrecktes Gesichtchen mit hellen, braunen Augen zum Vorschein und zwei niedliche, kleine Fäustchen.
»Du hast mir wehgethan,« klagte eine Kinderstimme in vorwurfsvollem Ton.
»Wirklich?« erwiderte der Mann bedauernd, »das thut mir leid.« Dabei knüpfte er das Bündel auf, und heraus sprang ein etwa fünfjähriges Mädchen, dessen zierliche Schuhe, rosa Röckchen und weißleinenes Schürzchen auf mütterliche Sorgfalt deuteten. Die Kleine war bleich und mager, doch ließen die rundlichen Aermchen und Beinchen erkennen, daß sie weniger Mangel gelitten hatte, als ihr Gefährte.
»Ist’s denn noch nicht wieder gut?« fragte er ängstlich, als sie sich noch immer das goldgelbe Lockenhaar auf dem Hinterkopf rieb.
»Gieb mir einen Kuß drauf, dann wird es heil,« versetzte sie ernsthaft, auf die schmerzende Stelle zeigend. »So macht es meine Mutter immer. Wo ist denn Mama?«
»Fortgegangen. Aber du wirst sie bald wiedersehen, glaube ich.«
»Fort – sagst du?« rief die Kleine. »Na, so was – sonst ging sie nie zur Tante ‘rüber, ohne erst ›B’hüt Gott‹ zu sagen – und jetzt ist sie schon drei Tage weg. – Mir ist so trocken im Munde. Hast du kein Wasser oder etwas zu essen?«
»Nein, Herzchen, es ist nichts da. Hab nur noch ein Weilchen Geduld, dann wird alles gut. Leg dein Köpfchen auf meine Schulter, so, nun ist’s schon besser. Mir klebt die Zunge am Gaumen, daß ich kaum sprechen kann, aber ich muß dir doch sagen, wie die Sachen stehen. Was hast du denn da in der Hand?«
»So was Hübsches, das glänzt und funkelt,« rief die Kleine, entzückt zwei Stückchen Glimmerschiefer emporhaltend. »Wenn wir heimkommen, bring ich sie Bruder Bertel mit.«
»Du wirst bald schöneres Spielzeug kriegen,« sagte der Mann zuversichtlich, »wart’ nur noch ein wenig. Aber, was ich dir sagen wollte – weißt du noch, wie wir vom Fluß fortzogen?«
»Freilich.«
»Siehst du, wir glaubten, es käme bald ein anderer Fluß – aber er kam nicht. Ich weiß nicht, waren die Karten falsch oder der Kompaß, oder woran lag es. Das Wasser ging uns aus; nur für dich war noch ein Tröpfchen da – und –« »Du konntest dich gar nicht waschen,« sagte sie, ihm ernsthaft in das dunkle Gesicht blickend.
»Nein, und auch nicht trinken. Herr Bender sank zuerst um, und dann der Indianerpeter, dann Frau Gregor, dann Johanny Hones, und dann, Herzchen, auch deine Mutter.«
»Ist Mutter auch tot?« Die Kleine verbarg ihr Gesichtchen in der Schürze und schluchzte bitterlich.
»Ja, alle außer uns beiden. Ich hoffte, in dieser Richtung würde Wasser zu finden sein, so lud ich dich denn auf die Schulter und wanderte fort mit dir. Aber es hat nichts genützt und jetzt weiß ich keine Hilfe mehr.«
Das Kind hörte plötzlich auf zu weinen.
»Du meinst, wir werden auch sterben?« fragte es, die nassen Augen zu ihm aufschlagend.
»Dazu wird’s wohl kommen.«
»Warum hast du denn das nicht gleich gesagt?« rief die Kleine, und lachte hell auf. »Du hast mich so erschreckt. Natürlich kommen wir wieder zur Mutter, wenn wir sterben.«
»Du gewiß, Herzchen.«
»Und du auch. Ich will ihr sagen, wie schrecklich gut du gewesen bist. Sie kommt uns gewiß am Himmelsthor entgegen mit einem großen Krug Wasser und frisch gebackenen Buchweizenkuchen, heiß und knusperig, wie sie Bertel und ich gern haben. Wie lange müssen wir noch warten?«
»Ich weiß nicht – nur kurze Zeit.« Der Blick des Mannes war nach dem nördlichen Horizont zugewendet, wo in der blauen Luft drei dunkle Punkte schwebten, die jeden Augenblick an Umfang zunahmen. Jetzt erkannte man, daß es drei große Vögel mit braunem Gefieder waren, die über den Häuptern der Wanderer kreisten und sich dann auf den nächsten Felsspitzen niederließen. Es waren Bussarde, die Geier des Westens und Vorboten des Todes.
Die Kleine klatschte in die Hände. »Die können aber schön fliegen,« rief sie fröhlich. »Sag mal, hat denn der liebe Gott dies Land gemacht?«
»Versteht sich,« erwiderte ihr Gefährte, verwundert über die Frage.
»Er hat Illinois gemacht und Missouri, das weiß ich,« fuhr das Kind fort. »Aber diese Gegend ist lange nicht so hübsch, die hat gewiß jemand anders geschaffen und dabei das Wasser und die Bäume vergessen.«
»Willst du nicht jetzt dein Gebet sagen?« – Die Stimme des Mannes zitterte.
»Soll ich? – Es ist ja noch nicht Abend.«
»Das thut nichts. Wenn’s auch nicht die richtige Zeit ist, glaub’ nur, Gott hört dich doch. Sag’ dein Nachtgebet her, wie jeden Abend im Wagen, als wir über die Prairie fuhren.«
»Warum betest du denn nicht selbst?« fragte die Kleine verwundert zu ihm aufschauend. »Ich weiß nicht mehr wie – es ist so lange her, seit ich’s gethan, ich hab’ die Worte vergessen. Sag’ du sie mir vor und ich bete mit – noch ist’s nicht zu spät.«
»Dann mußt du niederknieen und ich auch,« sagte sie, und breitete den Shawl auf die Erde.
»Du mußt auch die Hände falten – so – du wirst sehen, wie gut das thut.«
Neben einander knieten sie am Boden, das kleine plaudernde Kind und der wetterharte Wanderer. Ihr Unschuldsblick und sein abgezehrtes Antlitz waren nach oben gerichtet, zu dem wolkenlosen Himmel. Vor Gottes Angesicht flehten sie um Gnade und Vergebung. Der Ton seiner tiefen, rauhen Stimme mischte sich in den hellen Klang der ihrigen. Nachdem das Gebet gesprochen war, nahmen sie wieder Platz im Schatten der Felswand und bald schlummerte die Kleine sanft ein, an die breite Brust ihres Beschützers geschmiegt. Seit drei Tagen und Nächten hatte er sich weder Ruhe noch Rast gegönnt, auch jetzt wollte er bei ihr wachen, aber die Natur forderte ihr Recht. Langsam fielen ihm die müden Augen zu, das Haupt sank ihm auf die Brust, sein grauer Bart mischte sich mit den blonden Locken des Kindes und beide lagen zusammen in tiefem, traumlosem Schlummer da.
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