»Das Wichtigste scheint mir doch, den Mörder unschädlich zu machen,« fiel ich ein, »damit er nicht noch mehr Unthaten begehen kann.«
So von allen Seiten gedrängt, schien Holmes unentschlossen, was er thun solle. Mit gerunzelten Brauen, den Kopf auf die Brust gesenkt, schritt er im Zimmer auf und ab, wie seine Gewohnheit war, wenn es eine große Entscheidung galt. Plötzlich blieb er uns gegenüber stehen.
»Es wird kein Mord mehr verübt werden, darüber können Sie außer Sorge sein,« sagte er mit Bestimmtheit. »Sie fragen mich nach dem Namen des Verbrechers – den kenne ich. Ja, was noch mehr ist, ich hoffe, in kürzester Frist ihn selbst in die Hände zu bekommen. Alle meine Vorkehrungen zu dem Zweck sind getroffen, aber die Ausführung erfordert große Umsicht, denn wir haben es mit einem kühnen Menschen zu thun, der zum Aeußersten entschlossen ist. Auch fehlt es ihm nicht an einem Gehilfen, der ebenso verschlagen ist wie er selbst – davon habe ich Beweise. Solange der Mann nicht ahnt, daß man ihn beobachtet, ist es möglich, seiner habhaft zu werden. Schöpfte er aber auch nur den geringsten Argwohn, so würde er einen andern Namen annehmen und unter den vier Millionen Einwohnern dieser großen Stadt spurlos verschwinden. Ich möchte Sie beide nicht kränken, doch scheint mir, daß die Polizei jenem Manne gegenüber machtlos ist. Ich habe Sie deshalb auch nicht um Ihre Hilfe angegangen, und will lieber Tadel und Verantwortlichkeit allein tragen, wenn die Sache mißlingt. Jedenfalls verspreche ich, Ihnen Weiteres mitzuteilen, sobald ich überzeugt bin, daß meine Pläne nicht mehr gefährdet werden können.«
Die beiden Polizisten schienen durch diese Versicherung nicht sehr befriedigt und überhaupt wenig erbaut von dem abfälligen Urteil meines Gefährten. Gregson wurde rot bis zu den Schläfen und Lestrades Augen funkelten vor Aerger und Neugier. Sie fanden jedoch keine Zeit, ihrem Herzen Luft zu machen, denn in diesem Augenblick klopfte es an der Thür, und der Häuptling der zerlumpten Freiwilligenschar, der junge Wiggins, erschien in höchsteigener, unansehnlicher Person.
»Ich wollte nur melden, Herr,« sagte er, eine stramme Haltung annehmend, »daß ich die Droschke gebracht habe; sie hält unten.«
»Bravo,« rief Holmes beifällig. Er holte ein Paar stählerne Handschellen aus der Kommodenschublade. »Sehen Sie nur, wie die Feder zuschnappt, in einem Augenblick sitzen sie fest. Warum führt man eigentlich diese Sorte nicht bei der Polizei ein?«
»Das alte Muster erfüllt seine Zwecke gut genug,« versetzte Lestrade; »die Hauptsache bleibt immer, den Mann zu haben, dem man sie anlegen soll.«
»Freilich, freilich,« bestätigte Holmes lächelnd. »Höre Wiggins, bitte doch einmal den Droschkenkutscher heraufzukommen, er soll mir bei dem Gepäck behilflich sein.«
Es überraschte mich, daß mein Gefährte im Begriff schien, eine Reise anzutreten, denn er hatte davon nichts gegen mich erwähnt. Im Zimmer stand ein kleiner Handkoffer,, den er jetzt hervorzog und zuzuschließen begann. Er war noch damit beschäftigt und kniete am Boden, als der Droschkenkutscher eintrat. »Können Sie mir vielleicht hier den Riemen fester schnallen, Kutscher,« sagte er, ohne den Kopf umzuwenden.
Der Mensch trat verdrossen hinzu und streckte die Hände nach dem Riemen aus. Man vernahm einen scharfen, metallenen Klang und im nächsten Augenblick sprang Sherlock Holmes rasch in die Höhe.
»Meine Herren,« rief er mit blitzenden Augen, »hier stelle ich Ihnen Jefferson Hope vor, den Mörder von Enoch Drebber und Joseph Stangerson.«
Alles war mit solcher Schnelligkeit vor sich gegangen, daß uns kaum Zeit zur Besinnung blieb, doch erinnere ich mich deutlich an den triumphierenden Ausdruck in Holmes’ Blick und Ton und an des Kutschers verdutzte, ingrimmige Miene, mit der er die Handschellen betrachtete, welche ihn wie durch Zauberkunst gefesselt hielten.
Wir standen starr wie Bildsäulen, aber nur einen Augenblick, denn plötzlich stieß der Gefangene einen Schrei wilder Wut aus, riß sich mit gewaltiger Kraft von Holmes los und rannte nach dem Fenster; Glas und Holzwerk brachen in tausend Splitter bei seinem mächtigen Anprall. Noch ehe er sich jedoch hinausstürzen konnte, sprangen Lestrade, Gregson und Holmes auf ihn, wie Jagdhunde auf ihre Beute; er ward ins Zimmer zurückgezogen und nun entspann sich ein furchtbarer Kampf. Wieder und immer wieder gelang es ihm, uns alle vier abzuschütteln; mit der Riesenstärke eines Wahnsinnigen wehrte er sich gegen seine Angreifer. Die zertrümmerten Fensterscheiben hatten ihm Gesicht und Hände schrecklich verletzt, aber der Blutverlust schwächte seine Widerstandskraft nicht. Erst als es Lestrade gelang, ihm von hinten die Hand in den Halskragen zu stecken und ihn fast zu erwürgen, sah er ein, daß jeder weitere Versuch, uns zu entrinnen, vergeblich sein würde. Der Sicherheit halber banden wir ihn noch an den Füßen und konnten nun erst wieder zu Atem kommen.
»Seine Droschke steht noch unten, wir wollen sie gleich benützen, um ihn auf die Polizei zu bringen,« sagte Sherlock Holmes. »Und nun, meine Herren,« fuhr er fort, »bin ich bereit, alle Ihre Fragen zu beantworten. Mein kleines Geheimnis ist enthüllt, und Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich Ihnen die gewünschte Auskunft verweigere.«
Inhaltsverzeichnis
8. Auf der großen Alkali Ebene
Inhaltsverzeichnis
Im Innern des Festlandes von Nordamerika liegt eine dürre, unwirtliche Wüstengegend, die sich Jahrhunderte lang als ein unübersteigliches Hemmnis für jeden Fortschritt der Zivilisation erwiesen hat. Diese große Einöde, welche der Yellowstonefluß im Norden, der Colorado im Süden begrenzt, dehnt sich von der Sierra Nevada bis Nebraska in schauerlichem Todesschweigen aus. Es herrscht zwar auch hier keine Einförmigkeit in der Natur – hohe Schneeberge wechseln mit düstern Thalgründen, reißende Ströme stürzen durch zerklüftete Bergschluchten, die endlosen Ebenen, die der Winter in ungeheure Schneefelder verwandelt, sind im Sommer unter einer grauen Decke von salzigem Alkalistaub begraben – doch eine schrecklichere, trostlosere Gegend findet sich nirgends.
Dies Land des Grauens ist menschenleer. Einzelne Scharen von Pawnees oder Schwarzfuß-Indianern durchstreifen es wohl, um andere Jagdgründe aufzusuchen, aber selbst die tapfersten Rothäute frohlocken, wenn die gefürchteten Salzebenen hinter ihnen liegen und sie wieder über ihre geliebte Steppe schweifen. Hier lauert nur der Coyote im Gestrüpp, der Bussard fliegt schwerfällig durch die Luft und der täppische graue Bär sucht in den dunklen Schluchten der Felsengebirge seine kärgliche Nahrung. Dies sind die einzigen Bewohner der schauerlichen Wüste.
Eine trübseligere Aussicht findet man auf Erden nicht, als den Blick von den nördlichen Höhen der Sierra Bianca. Soweit das Auge reicht, nichts als die endlose, flache Ebene, hier und da ein verkrüppeltes Chapparal-Gebüsch und Haufen von Alkalistaub, der die ganze Gegend bedeckt. Am fernsten Horizont zieht sich eine Gebirgskette hin, deren zerklüftete Gipfel mit Schnee bedeckt sind. Meist ist kein lebendiges Wesen zu erblicken, kein Laut unterbricht die fürchterliche Stille, starres, totes Schweigen herrscht rings umher.
Mitten in der Wüste aber gewahrt man, in der weiten Ferne sich verlierend, eine Karawanenstraße. Manches Fuhrwerk hat dort tiefe Räderspuren im Boden zurückgelassen, viele Glücksjäger haben mit wanderndem Fuß das Erdreich festgetreten. Hier und da glänzt etwas Weißes in der Sonne und hebt sich grell von der grauen Alkalischicht ab. Wir betrachten es näher und erkennen, daß es Gebeine sind – die derberen sind Knochen von Zugstieren, die feineren von Menschen. Fünfzehnhundert Meilen lang läßt sich diese Totenstraße an den irdischen Ueberresten derjenigen verfolgen, die hier am Wege niedergesunken sind.
Читать дальше