»Was ist geschehen?« rief sie. »Jack, es droht dir Gefahr?«
»So schlimm ist es nicht, Liebste, und doch ist es vielleicht klüger, wenn wir uns davonmachen, bevor es schlimmer wird.«
»Uns davonmachen?«
»Ich versprach dir einst, daß dies eines Tages geschehen würde. Dieser Tag ist nahe. Ich erhielt heute Nachrichten, schlechte Nachrichten, und sehe Unheil herannahen.«
»Die Polizei?«
»Nicht ganz. Ein Pinkerton-Detektiv. Aber du weißt selbstverständlich nicht, was das ist, noch was es für meinesgleichen bedeutet. Ich habe mich in diese Geschichte zu tief eingelassen, und es mag sein, daß ich in höchster Eile das Weite suchen muß. Du versprichst mitzukommen, wenn ich gehe?«
»Gewiß, Jack, es wäre deine Rettung.«
»In manchen Dingen bin ich ein ehrlicher Mensch, Ettie; ich könnte zum Beispiel nicht um die Welt ein Haar deines süßen Kopfes krümmen, oder dich auch nur um Zollbreite von dem goldenen Thron über den Wolken, auf dem ich dich immer sehe, herabziehen. Kannst du mir vertrauen?«
Sie legte, ohne ein Wort zu sprechen, ihre Hand in die seine.
»Nun gut, höre mir aufmerksam zu und tue genau das, was ich dir sage, denn es ist für uns die einzige Rettung. Es bereitet sich hier etwas vor, das fühle ich in allen Gliedern. Gar mancher von uns wird sehen müssen, wo er bleibt. Ich bin einer von ihnen. Wenn ich gehen muß, ob bei Tag oder bei Nacht, mußt du mitkommen.«
»Ich kann dir nachkommen, Jack.«
»Nein, nein, du mußt gleich mitkommen. Dieses Tal wird mir wahrscheinlich bald auf immer verschlossen sein; ich werde nicht mehr zurückkommen können. Wie könnte ich dich hierlassen, während ich mich vielleicht vor der Polizei verbergen muß und keine Möglichkeit habe, dir eine Nachricht zukommen zu lassen? Du mußt mitkommen. Dort wo ich zu Hause bin, ist eine gute Frau, bei der du bleiben kannst, bis wir heiraten können. Willst du?
»Ja, Jack, ich will.«
»Gott segne dich dafür. Liebste. Ich müßte ein Teufel aus der schwärzesten Hölle sein, wenn ich dein Vertrauen je mißbrauchte. Nun paß auf, Ettie, ich kann dir vielleicht nur ein Wort zukommen lassen. Aber wenn es dich erreicht, mußt du alles stehen und liegen lassen, sofort in den Wartesaal des Bahnhofes gehen und dort bleiben, bis ich komme.«
»Ich werde kommen, Jack, bei Tag oder Nacht.«
Mit leichterem Herzen setzte McMurdo seinen Weg zur Loge fort. Die Vorbereitungen zu seiner Flucht waren nahezu getroffen. Nachdem er die verschiedenen Wachtposten durch Abgabe der vereinbarten Erkennungszeichen befriedigt hatte, trat er in den Versammlungsraum ein. Die Loge war bereits versammelt. Freundliche Willkommrufe begrüßten seinen Eintritt. Der lange Raum war überfüllt. Durch den blauen Tabakdunst gewahrte er die schwarze Mähne des Logenmeisters, das grausame, mißmutige Gesicht Baldwins, das Geiergesicht Harraways, des Sekretärs, und ein Dutzend andere Führer der Loge. Es freute ihn, daß sie alle da waren, um seine Nachrichten zu hören.
»Es freut uns, Sie zu sehen, Bruder,« rief der Vorsitzende. »Wir haben eine Sache hier, für die wir ein salomonisches Urteil brauchen.«
»Es ist die Geschichte mit Lander und Egan,« erklärte ihm sein Nachbar, als er Platz nahm. »Beide beanspruchen das Kopfgeld, das die Loge für das Erschießen des alten Crabbe drüben in Stylestown ausgesetzt hat, aber wer soll entscheiden, wessen Kugel traf?«
McMurdo stand auf und hob die Hand. Der Ausdruck seines Gesichtes zog die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung auf sich. Ein erwartungsvolles Schweigen folgte.
»Verehrungswürdiger Meister, Freunde und Brüder,« sagte er. »Ich bin heute der Überbringer schlimmer Nachrichten, aber es ist besser, daß sie bekannt und besprochen werden, als daß ein Schlag, der uns alle vernichten kann, uns unvorbereitet trifft. Ich habe die böse Nachricht erhalten, daß sich die mächtigsten und reichsten Unternehmungen dieses Staates zu unserer Vernichtung vereinigt haben und daß in diesem Augenblick ein Pinkerton-Detektiv, und zwar ein gewisser Birdy Edwards, sich in unserer Gegend aufhält, damit beschäftigt, Beweismaterial zu sammeln, um vielen von uns eine Schlinge um den Hals zu legen und jeden Mann in diesem Raum in die Verbrecherzelle zu bringen. Das ist die Lage, die ich zur Besprechung bringen will und für die ich Dringlichkeit verlange.«
Totenstille herrschte im ganzen Raum, bis sie von dem Vorsitzenden gebrochen wurde.
»Welche Beweise haben Sie dafür, Bruder McMurdo?« fragte er.
»Der Beweis ist in diesem Brief enthalten, der in meine Hände gelangte,« sagte McMurdo. Er las die Stelle laut vor. »Es ist für mich eine Ehrensache, daß ich über den Brief nichts weiter sage und ihn euren Händen vorenthalte, aber ich versichere euch, daß sonst nichts darin steht, was die Interessen der Loge betrifft. Ich lege euch die Sache genau so vor, wie sie mir zugekommen ist.«
»Ich möchte bemerken, Herr Vorsitzender,« sagte einer der älteren Brüder, »daß ich von Birdy Edwards schon gehört habe, und daß er als der fähigste Mann im Dienste der Pinkertons gilt.«
»Kennt ihn einer von euch vom Sehen?« fragte McGinty.
»Jawohl,« sagte McMurdo, »ich kenne ihn.«
Ein Murmeln der Verblüffung ging durch den Raum.
»Ich glaube, wir haben ihn in unserer Gewalt,« fuhr er mit einem frohlockenden Lächeln in seinem Gesicht fort. »Sofern wir schnell und klug vorgehen, können wir die Gefahr beseitigen. Wenn Ihr mir Vertrauen schenken und volle Unterstützung zuteil werden laßt, haben wir kaum etwas zu fürchten.«
»Haben wir denn überhaupt etwas zu fürchten? Was kann er denn von unseren Angelegenheiten wissen?«
»So könnten Sie vielleicht reden, Rat McGinty, wenn alle so verschwiegen und treu wären wie Sie. Aber dieser Mann hat Millionen von Kapitalistengeld hinter sich. Glauben Sie etwa, daß sich in allen Logen nicht ein Bruder finden wird, der für dieses Geld den Verräter spielt? Er kommt hinter unsere Geheimnisse – vielleicht hat er sie schon – und es gibt nur eine mögliche Lösung –«
»Er darf niemals unser Tal verlassen,« sagte Baldwin.
»Ganz meine Meinung, Bruder Baldwin,« sagte er. »Sie und ich waren manchmal uneinig, aber heute befinden wir uns in voller Übereinstimmung.«
»Wo ist er, und wie sollen wir ihn erkennen?«
»Verehrungswürdiger Meister,« sagte McMurdo in ernstem Ton. »Ich möchte Ihnen zu bedenken geben, daß die Sache für uns zu wichtig ist, um in offener Sitzung besprochen zu werden. Ich möchte um alles in der Welt auf niemanden hier nur den Schatten eines Zweifels werfen, aber wenn selbst nur ein Wort dem Mann zu Ohren kommt, wäre jede Aussicht, seiner habhaft zu werden, für uns verloren. Ich beantrage, daß die Loge einen vertrauenswürdigen Ausschuß wählt, den Vorsitzenden und, wenn ich mir einen Vorschlag gestatten darf, Bruder Baldwin und fünf andere. Dann kann ich frei und offen über das, was ich weiß, sprechen und vorbringen, was nach meiner Ansicht zu tun ist.«
Der Antrag wurde angenommen und der Ausschuß gewählt. Außer dem Vorsitzenden und Baldwin gehörten ihm an: Harraway, der Sekretär mit dem Geiergesicht, der rohe junge Meuchelmörder Tiger Cormac, der Schatzmeister Carter und die beiden Brüder Willaby, zwei furcht-und rücksichtslose junge Leute, die keinerlei Bedenken kannten.
Die gewöhnliche Zecherei in der Loge war an jenem Abend kurz und gedämpft, denn eine Wolke hing über der Versammlung, und viele sahen zum erstenmal den Schatten des rächenden Gesetzes die Sorglosigkeit, in der sie solange gelebt hatten, verdunkeln. Die Schrecken, die sie selbst anderen bereitet hatten, waren so sehr eine Angelegenheit des Alltags geworden, daß der Gedanke einer Vergeltung in weite Ferne gerückt schien. Um so heftiger war die Reaktion, als sie die Gefahr so dicht vor sich sahen. Sie brachen frühzeitig auf und ließen ihre Führer in Beratung zurück.
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