Zweigleisigkeit ist also ein möglicher und zugleich beschleunigender Übergangsweg. Viele Unternehmen stecken nämlich in einem Dilemma: Zerschlagen sie ihr etabliertes Geschäftsmodell, bleiben die Gewinne, die erwirtschaftet werden müssen, um ihren vielfältigen Verpflichtungen nachkommen zu können, zunächst aus. Zudem gibt es vielerorts Restriktionen durch Börsenvorschriften, Tarifverträge und geltendes Recht. So hat Bahnbrechendes in tradierten Organisationen oft sehr schlechte Karten. Der Ausweg aus diesem Dilemma: Man gründet aus, dockt an Innovationszentren an und / oder arbeitet mit passenden Start-ups zusammen, was wir in Kapitel sieben ausführlich betrachten. Disruptionen beginnen immer in einer Nische oder an den Rändern einer Organisation. Kleine Einheiten können zudem die Wachstumschancen in zu Beginn meist kleinen Märkten wesentlich besser nutzen.
In seinem wegweisenden Werk The Innovator’s Dilemma hat Clayton M. Christensen, Professor an der Harvard Business School, bereits 1997 darauf hingewiesen, dass klassischen Organisationen disruptive Innovationen nur dann gelingen, wenn sie diese in kleine Einheiten auslagern und nach einer komplett anderen als der üblichen Managementlogik entwickeln. 19John Paul Kotter, weltweit anerkannter Experte für Veränderungsmanagement, schlug 2012 in einem viel beachteten Beitrag für die Harvard Business Review eine temporäre Parallelorganisation vor, die er »duales System« nannte. 20Hierbei entsteht neben der klassischen Aufbauorganisation eine zusätzliche Netzwerkorganisation, die sich ohne die Repressalien einer formellen Hierarchie schnellen, lukrativen Innovationen widmen kann. Im Gegensatz zu einem ähnlichen älteren Konzept von Peter Drucker wird dieses Gebilde nicht abgetrennt, sondern es agiert komplementär zur bestehenden Organisation.
Ambidextrie betrifft die Geschäftsmodelle genauso wie die Arbeitsweisen und das Führungsverhalten. Das Beste aus beiden Welten heißt demnach: Zunächst trennt man sich konsequent von veralteten Produkten, Methoden und Mindsets. Danach sorgt man für ein traditionelles Standbein und ein agiles Spielbein. Man kapitalisiert die derzeitigen Renditebringer und beginnt – abseits des Unternehmenszentrums – vehement mit etwas ganz Neuem. Insofern gilt es einerseits, die Ertragskraft der Kernaktivitäten zu sichern. Das laufende Geschäft muss die Innovationen mitfinanzieren, solange man nicht von Letzteren leben kann. Andererseits geht es darum, Jungunternehmer-Qualitäten und Pioniergeist zu entwickeln, sich also innovativ, rasend schnell und risikoaffin zu bewegen. Organisational gilt das Gleiche: Verschiedene Einheiten agieren noch mehr oder weniger klassisch, andere arbeiten bereits komplett selbstorganisiert.
Eine Trennung zwischen »Core-Business« und »Future-Business« kann sinnvoll sein.
Selbstorganisierte Einheiten orchestrieren sich, ohne in formelle Hierarchien eingebunden zu sein, mithilfe agiler Methoden autonom. Nur so können sie Innovationen schnell entwickeln und in den Markt katapultieren. Hierzu braucht es neue Prozesse, neue Umgangsformen und neue Qualifikationen, wie wir in Kapitel vier, fünf und sechs ausführlich zeigen. Empfehlenswert ist es aus unserer Sicht, zunächst eine kleinere Zahl von Bereichen auf Selbstorganisation umzustellen. Schnell wird der Rest der Organisation allerdings merken: Diese sind sehr viel flotter unterwegs. Zudem macht das Arbeiten dort richtig viel Spaß. Und es ist weit produktiver. Die Ambidextrie ist somit ein Brückenkopf für den Übergang in die Next Economy und ein Zwischenschritt auf dem Sprung in die Next Organisation. Die Kunst dabei? Das Zusammenspiel von klassischen und selbstorganisierten Einheiten sowie von Mutterhaus und ausgelagerten Business-Units zu meistern. So gilt es, im beidhändigen Sowohl-als-auch eine Balance zu finden, sich zu synchronisieren und gegenseitig zu befruchten, anstatt sich in die Quere zu kommen. Bewährte Ordnungsstrukturen sind eben hie und da durchaus noch relevant, v or allem da, wo es gut strukturierbare Aufgaben unter vorhersehbaren Marktbedingungen in einem stabilen Umfeld gibt. Doch je dynamischer das Marktgeschehen wird, desto mehr Selbstorganisation wird gebraucht, um schnelle Anpassungen möglich zu machen. Dabei benötigen auch autonome Einheiten ein Mindestmaß an Struktur und Ordnung, Routinen und Regeln. Was wir hingegen quer durch die gesamte Unternehmenswelt sicher nicht brauchen: einen Rückfall in das alte System aus Dominanz, Befehl und Gehorsam.
Den Umbau lostreten: Wege in die Transformation
Selbst dann, wenn Sie derzeit erfolgreich am Markt agieren: Starten Sie zügig einen Prozess mit dem Ziel, sich von innen heraus neu zu erfinden. Ein bisschen Flickschusterei hie und da reicht eben nicht. Es ist zunächst das Grundgerüst eines Unternehmens, das überdacht, neu aufgestellt und visuell sichtbar gemacht werden muss. Denn erst wenn die Menschen ein Bild vor Augen haben, können sie sich eine Vorstellung machen – und dann entsprechend agieren. Unser Orbit-Modell hilft dabei.
Visualisierung wird immer wichtiger, weil sie erstens die Dinge transparent und zweitens Zusammenhänge besser erfassbar macht. Jedes Unternehmen ist dabei anders und sollte demnach sein ganz eigenes Schaubild finden, das sich logischerweise im Verlauf der Geschäftsentwicklung verändert. In Zeiten exponentiellen Wandels herrscht permanente Vorläufigkeit. Ein endgültiges Ankommen kann es nicht geben. Jede Unternehmensformation und alle Geschäftsmodelle sind nur temporär. Das passende Gebilde lässt sich nicht von der Stange kaufen. Es muss gemeinsam erarbeitet, getestet, angepasst, weiterentwickelt und notfalls auch wieder verworfen werden.
Geht der Umbau dann los, braucht es Menschen, die bereit sind, zumindest in Teilbereichen der Firma mit neuen Organisationsformen zu experimentieren. Bei Weitem nicht jeder ist dafür geschaffen, sich vorbehaltlos an Neues zu wagen. Insbesondere braucht es ein neues Führungsverständnis, neue Arbeitsumgebungen und neue Arbeitsmethoden. Zudem braucht es neue Formen eines interdisziplinären, hierarchieübergreifenden Miteinanders – verknüpft mit einer fehleroffenen, sanktionsfreien Lernkultur. Viele Managementtools, die aus dem Industriezeitalter stammen, müssen komplett gestrichen oder durch brauchbarere Vorgehensweisen ausgetauscht werden. Auf all das kommen wir im Verlauf dieses Buches zurück. Ferner sind Erprobungsphasen überaus wichtig. Hierbei müssen vor allem diejenigen Führungskräfte und Mitarbeiter, die bislang eher anweisungsbasiert tätig waren, an eigenverantwortliche Formen der Arbeit schrittweise herangeführt werden. Aus dem Stand heraus klappt so was nicht. Können entsteht nur durch Üben.
Um den Aufbruch konkret in Angriff zu nehmen, sind vier Situationen denkbar
1. Sie sind ein kleineres oder ein mittelgroßes Unternehmen, das schon länger am Markt agiert:Perfekt! KMU können vieles, über das wir hier schreiben, ganz besonders schnell umsetzen. Treffen Sie eine Grundsatzentscheidung! Brechen Sie mit Ihrem alten Organisationsmodell und den alten Mindsets, die dahinterstecken. Beginnen Sie mit einer neuen Denke und einem neuen Handeln. Aber kopieren Sie nicht. Machen Sie Ihr eigenes Ding. Verwenden Sie dazu alles aus diesem Buch und aus anderen Quellen, soweit es für Sie passt.
2. Sie sind ein sehr großes Unternehmen oder ein Konzern:Beginnen Sie am Rand Ihrer Organisation mit etwas ganz Neuem! Richten Sie dort erste Einheiten ein, die nicht nur nach disruptiven Innovationen suchen, sondern auch nach neuen organisationalen Regeln spielen. Widerstehen Sie vor allem dem Versuch, als Erstes ein klassisches Organigramm dafür zu zeichnen. Aber die Leute müssen doch wissen, wo sie »aufgehängt« (!) sind und an wen sie berichten? Von aufgehängten Mitarbeitern bekommen Sie gar nichts! Und ständig berichten hält nur davon ab, das Beste für die Kunden zu tun. Damit es vorangeht, ist hierarchiefreies Arbeiten unerlässlich. Scharen sie also die Leute in einem Kreis um die Kunden herum. In einem Kreis gibt es kein Oben und Unten. Verwenden Sie außerdem alles aus diesem Buch und anderen Quellen, was für Sie passt.
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