Chronologie und Schauplätze:
Das Stationenstück steht formal in der Tradition von Georg Büchners Woyzeck und des expressionistischen Dramas, ohne ihm in der Idee der Welt- und Menschheitserlösung zu folgen. Es spielt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in der Zeit der Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft, in Hamburg. Die Stationen korrespondieren mit Borcherts Erfahrungen. Auffallend ist eine Parallelität zu Goethes Faust . Der Tragödie erster Teil, zu dem das Stück einen Gegenentwurf darstellt. Die Erzählung Die lange lange Straße lang ist eine epische Variante des Stücks.
Personen:
Die Hauptpersonen sind
Beckmann:
ausgewiesen als „einer von denen“ (HL S. 4/R S. 6), die er als Typ des Heimkehrers repräsentiert;
Individualitätsmerkmal des Familiennamens;
äußere Attribute: Knieverletzung und Gasmaskenbrille;
das leidende Individuum in einer existenziellen Notsituation.
Der Andere:
Wesen mit den „tausend Gesichter[n]“ (HL S. 11/R S. 15);
das Gegenwesen zu Beckmann, der als Neinsager den Jasager benötigt;
Verwandtschaft mit Mephisto.
Ein Mädchen:
„dessen Mann auf einem Bein nach Hause kam“ (HL S. 4/R S. 6);
hilfsbereit und freundlich;
ihr Mann ist bei Stalingrad vermisst;
tritt als einzige Person außer Beckmann/der Andere in drei Szenen auf;
sie ist einer Maria Magdalena ähnlich, jedoch in umgekehrter Situation.
Frau Kramer:
„die weiter nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar“ (HL S. 4/R S. 6);
Typ des Mitläufers und Denunzianten;
steht für eine Kleinbürgerlichkeit, die den Faschismus ermöglichte und ihn nach seiner Niederlage als geistiges Potenzial in der Nachkriegszeit weiterführte.
Direktor eines Kabaretts:
muss sich mit dem Anspruch Beckmanns, ein Künstler zu sein, auseinandersetzen;
passt sich jeder Situation an und besitzt selbst keine Haltung;
seine ästhetischen Positionen sind ohne Konzept;
Unwissenheit wird zum Maßstab gemacht und steht für zahlreiche Deutsche nach 1945.
Elbe und Gott:
erscheinen personifiziert und sprechend;
in sie werden reale Personen projiziert: die lebenstüchtige Mutter Borcherts und der zurückhaltende, leise Vater.
Stil und Sprache:
Das grundsätzliche sprachliche Problem: Borchert ringt um „Wahrheit“ mit den Mitteln einer missbrauchten Sprache. Fragen, Wiederholungen und Interjektionen sind für den Sprachfluss bedeutend. Die Sprache ist auffällig und einmalig, eine Mischung aus zugespitzter Einfachheit und ausufernder Bildhaftigkeit, lapidarer Feststellung und schichtweise aufgelegter Bedeutungsvielfalt.
Interpretationsansätze:
Das Stück ist ein Maßstäbe setzendes Werk über die verlorene männliche Generation, die – falls sie überlebte – ihre Jugend im Krieg, in Gefangenschaft oder als Kriegsheimkehrer erlebte und diese Erfahrungen in das weitere Leben einbrachte. Das Stück versucht, dem zum Objekt degradierten Menschen wieder zum Subjekt zu verhelfen. Es bedient sich eines Realismus, der die offenen Fragen in Visionen zu beantworten sucht, aber keine Antworten findet und deshalb außerhalb der bürgerlichen Ordnung landet (siehe Titel des Stücks).
Zahllose Ansätze: vom umgekehrten Passionsspiel über ein Beispiel für eine Höllenfahrt bis zur Rehabilitation der Schuldigen, die Verantwortung und die Zurücknahme.
Verbindung von realistischen Details und irrationalen Elementen;
mythische Dimension des Stücks;
das „Delirium des Ertrinkenden“.
Rezeptionsgeschichte:
Die Rezeption vollzog sich in drei Phasen.
Das Stück wurde zwischen 1947 und 1949 das bedeutendste Theaterereignis in Westdeutschland.
Die Stellung des Stücks in der Theaterentwicklung nach 1945.
Die zwiespältigen Urteile der Kritiker hatten ihren Gegenpol in den Bekenntnissen der Generationsangehörigen.
2. |
Wolfgang Borchert: Leben und Werk |
Wolfgang Borchert 1921–1947
© ullstein bild – Rosemarie Clausen
JAHR |
ORT |
EREIGNIS |
ALTER |
1921 |
Hamburg-Eppendorf |
20. Mai: Wolfgang Borchert wird als Sohn des Lehrers Fritz Borchert und seiner Frau Hertha, geborene Salchow, geboren. Die Mutter schreibt Geschichten im Vierländer Plattdeutsch. |
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1928 |
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Volksschule |
7 |
1932 |
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Oberrealschule |
11 |
1937 |
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7. März: Konfirmation; im Dezember sieht Borchert Gustaf Gründgens als Hamlet im Theater und will daraufhin Schauspieler werden. |
16 |
1938 |
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Gedicht Reiterlied im „Hamburger Anzeiger“; Theaterstück Yorick, der Narr! ; im Dezember verlässt Borchert die Schule nach der Obersekunda ohne Abschluss. |
17 |
1939 |
Hamburg |
1. April: Buchhändlerlehre bei Boysen; privater Schauspielunterricht bei Helmuth Gmelin. 1. Dezember: Bekanntschaft mit Isot Kilian, aus der mit Günter Mackenthun eine Freundschaft und Liebe zu dritt wird. Komödie Käse (gemeinsam mit Mackenthun) |
18 |
1940 |
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19. April: Hausdurchsuchung und Verhaftung; Borchert hatte in Briefen von seiner „Rieke-Liebe“ gesprochen, die ihm die Gestapo als homosexuelle Beziehung vorwarf, bis sich ein Lesefehler herausstellte: Borchert hatte von seiner Rilke-Liebe gesprochen.[2] Schauspielprüfung; Aufgabe der Buchhändlerlehre am 31. Dezember. |
19 |
1941 |
Lüneburg |
März bis Juni: Schauspieler an der Landesbühne Osthannover |
20 |
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Weimar-Lützkendorf |
Juli bis November: Panzergrenadier bei der 3. Panzer-Nachrichten-Ersatz-Abteilung 81 |
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Witebsk, Kalinin |
November/Dezember: Fronteinsatz |
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1942 |
Schwabach |
Januar/Februar: Anfälle von Gelbsucht, Verwundung an der linken Hand; Heimatlazarett. |
21 |
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Nürnberg |
Mai: Der Verdacht, sich selbst an der Hand verwundet zu haben, führt zur Verhaftung Borcherts. Er verbringt drei Monate in Einzelhaft. August: Gerichtsverhandlung; Antrag: Tod durch Erschießen wegen Wehrkraftzersetzung. 31. Juli: Freispruch Weitere Untersuchungshaft: Äußerungen gegen „Staat und Partei“; vier Monate Gefängnis. Die Strafe wird in verschärfte Haft mit anschließender Frontbewährung abgewandelt. |
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Saalfeld, Jena |
Oktober/November: Garnisonsdienst |
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Toropez |
Dezember: als Melder eingesetzt; Erfrierungen; Anfälle von Gelbsucht und Fleckfieber. |
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1943 |
Smolensk Radom, Minsk |
Januar/Februar: Seuchenlazarett; „märchenhafte Tage“ mit dem russischen Mädchen Fina[3]; Abtransport in die Heimat. |
22 |
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Elend/Harz, Jena, |
Lazarett. |
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Hamburg |
September: Urlaub; Kabarettauftritte im „Bronzekeller“; |
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Kassel-Wilhelmshöhe |
Durchgangskompanie; Borchert wird wegen politischer Witze (Goebbels-Parodie) denunziert. |
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1944 |
Berlin-Moabit |
Januar: Verhaftung und Gefängnis; neun Monate Untersuchungshaft. |
23 |
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Jena |
Zur „Feindbewährung“ entlassen; einige Monate in Jena. |
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1945 |
Frankfurt am Main, |
Gefangennahme durch Franzosen; Flucht während des Transports; |
24 |
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Steinheim |
kurze Erholung auf dem Gut Wöbbel nahe Steinheim. Borchert erlebt mehr „als Mitleid und Gastfreundlichkeit“[4]. |
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Hamburg |
10. Mai: Ankunft in Hamburg 27. September: Kabarett-Auftritt in „Janmaaten im Hafen“; Shakespeare-Abend mit Isot Kilian; Mitbegründer des Hinterhofheaters „Die Komödie“. 1. November: Regieassistent am Schauspielhaus (Lessing: Nathan der Weise ); eine Krankheit fesselt Borchert ans Bett. |
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1946 |
Hamburg |
Februar: Erzählung Die Hundeblume, veröffentlicht am 30. April und 6. Mai in der „Hamburger Freien Presse“. Frühjahr: Aufenthalt im Elisabeth-Krankenhaus. In diesem Jahr entstehen etwa 20 Erzählungen. Ostern: Rückkehr nach Hause Spätherbst: Draußen vor der Tür entsteht. Dezember: Gedichtsammlung Laterne, Nacht und Sterne |
25 |
1947 |
Hamburg |
13. Februar: Sendung als Hörspiel; zahlreiche Reaktionen. April: Prosaband Die Hundeblume ; weitere Erzählungen entstehen. 4. Juli: Aufnahme in den Schutzverband Deutscher Autoren e. V. |
26 |
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Basel |
22. September: Freunde ermöglichen (auf Initiative von Verlegern) einen Aufenthalt im Sanatorium Clara-Hospital. Antikriegsmanifest: Dann gibt es nur eins! 20. November: Tod im Clara-Spital 24. November: Trauerfeier auf dem „Hörnli-Gottesacker“ |
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Hamburg |
21. November: Uraufführung des Dramas Draußen vor der Tür in den Kammerspielen |
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1948 |
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Veröffentlichung des Prosabandes: An diesem Dienstag ; |
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Hamburg-Ohlsdorf |
Beisetzung der Urne. |
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2.2 |
Zeitgeschichtlicher Hintergrund |
ZUSAMMENFASSUNG
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