Die Leute nahmen nach und nach ihr Gepäck auf und verschwanden, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war ein wunderbares Gefühl so ignoriert zu werden.
Schließlich spuckte das Band meinen kleinen Koffer aus, den ich mit Leichtigkeit anhob und hinter mir herzog.
Gleich würde ich meine Adoptivfamilie treffen, meine neue Familie. Die einzigen Menschen wohlgemerkt, die ich mit dem Begriff Familie in Verbindung bringen konnte.
Ich war mäßig aufgeregt. Ich kannte Brenda und Dan bereits. Sie hatten mich zweimal in England besucht, das erste Mal waren sie zu zweit gekommen und eine Woche geblieben. Das zweite Mal hatten sie ihre Tochter Delilah mitgebracht.
Brenda und Dan mochte ich von Anfang an, sie lachten und redeten viel, nannten mich Darling und Sweety und umarmten mich ständig. Etwas, das ich selten zuließ, normalerweise hielt ich mir Menschen vom Leib. Körperliche Nähe und Berührungen vertrug ich ungefähr so gut wie Horrorfilme. Nämlich gar nicht. Vor allem wenn es ein Mann war, der mir zu nahekam.
Meinem ersten Psychologen in Hexham, Professor Doktor Bird, hatte ich in die Hand gebissen, nachdem er versucht hatte meine Schulter zu tätscheln.
Brenda und Dan aber waren sanft und strahlten eine Geborgenheit aus, bei der ich mich sofort wohlfühlte. Vor allem Brenda hatte ich ins Herz geschlossen. Ein gutes Zeichen, wie Doktor Jones fand.
Ihre Tochter war sehr still gewesen und ich glaube, dass die Irrenanstalt und ich ihr ziemliche Angst eingejagt hatten. Die nächsten Tage kam sie nicht mehr zu Besuch und ich hatte ihre Eltern für mich alleine.
KAPITEL 2
Helios - Sonnengott, lenkt den Sonnenwagen über den
Himmel, folgt der Eos
Zielstrebig steuerte ich auf die Empfangshalle zu, passierte eine letzte Schiebetür und fand mich in einer großen sonnendurchfluteten und lärmigen Halle wieder.
Überall standen Menschen, redeten durcheinander und freuten sich lautstark über das Wiedersehen, kleine Kinder schrien und…
»Clara! Hier drüben.«
Ich reckte den Hals nach der Stimme, war aber zu klein, um über das Gedränge hinwegsehen zu können. Ich wurde einfach von der Masse mitgezogen und weiter zum Ausgang gedrängt. Links rempelte mich eine Frau an und von hinten trat mir jemand auf die Ferse. Vollidioten.
In meinem Inneren spürte ich, wie meine Klaustrophobie in mir aufkeimte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich hatte plötzlich das Gefühl zu groß für meinen Körper zu sein und bekam Schweißausbrüche.
Mit einem erstickten Schrei machte ich einen Satz nach vorne, drängte mich grob an den Leuten vorbei, setzte meine Ellenbogen ein und erkämpfte mir meinen Weg aus dem Gewühl. Hinter mir protestierte jemand. Leck mich doch!
Ich erreichte den Ausgang, stolperte ins Freie und rang gierig nach Sauerstoff. Dicke Abgase erfüllten meine Lungen. Autos, Shuttles und Taxis verpesteten die Luft um mich herum.
Aber allemal besser als die Enge der Empfangshalle.
Ich wollte da nicht wieder rein, aber ich musste meine neue Familie finden, die sich bestimmt schon wunderte, wo ich war. Wo ihre verrückte Adoptivtochter steckte.
»Clara, Sweety«, Brenda tauchte vor mir auf, ihr Blick war besorgt. »Wo läufst du denn hin?«
Ich suchte nach den richtigen Worten, um mein seltsames Verhalten zu erklären.
Ich fand sie nicht, aber Brenda verstand mich scheinbar auch so. Sie drückte mich an sich, typisch für sie und ich atmete ihren frischen Geruch ein, der den Knoten in meinem Magen ein wenig löste.
»Es ist so schön, dass du jetzt hier bist. Wir haben uns alle so auf dich gefreut. Ich hoffe, du hattest einen guten Flug, Darling«, sagte Brenda sanft und schob mich auf Armeslänge von sich, um mich eingehend zu mustern, und lächelte schließlich.
»Warte hier, ich hole Dad. Dann können wir zusammen nach Hause fahren.«
Nach Hause. Wie das klang. Fremd, neu und sehr verlockend.
Ein letztes Mal betrachtete sie mich, als frage sie sich, ob sie mich hier alleine warten lassen könne, ohne dass ich ausflippte, und verschwand dann wieder durch die Glastüren.
Den Großteil der Autofahrt starrte ich aus dem Fenster, betrachtete voller Neugier die Landschaft, die an uns vorbeizog. Oregon war wunderschön und erinnerte mich an Zuhause, aber gleichzeitig war hier alles fremd und neu.
Außerhalb von Portland säumten dichte Laubwälder die breiten Highways und die Sonne schien durch die Blätter und Äste. Ich hatte mir die Westküste Amerikas anders vorgestellt. Trockener, brauner und irgendwie karger. Aber alles war grün und blühte, so wie in England, und trotzdem sah hier die Natur anders aus.
Andere Bäume und Pflanzen. Alles anders. Alles neu. Alles fremd! Ich schluckte die aufkeimende Angst hinunter und summte, mit geschlossenen Augen, leise die Melodie von ›Walk in the Sun‹. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam und ich konnte wieder aus dem Fenster sehen ohne in Panik auszubrechen.
Wir entfernten uns immer mehr von der großen Stadt und die Gegend veränderte sich, wurde ländlicher und mehr so wie ich es mir vorgestellt hatte. Links und rechts von der Landstraße erstreckten sich weitläufige gelbe Felder und braune Äcker, weiße Farmerhäuser mit braunen Dächern wechselten sich mit Kuhund Pferdeweiden ab.
Die ganze Landschaft wurde von der Sonne erleuchtet und wirkte unwirklich, fast wie die gemalte Kulisse eines alten Films. Weniger grün, dafür aber mehr satte, trockene Töne. Im Vergleich zu England hätte man die Landschaft hier tatsächlich als karg bezeichnen können, auf mich aber übte diese Welt ihren ganz eigenen Zauber aus. Ich sah mich schon im Westernsattel sitzend über die weite Prärie reiten und träumte von einem kleinen Häuschen wie in ›Unsere kleine Farm‹, mit Hühnern und Schafen und einem Stall voller Kühe.
Ich blinzelte und das kleine Haus löste sich in Rauch auf, dafür eröffnete sich wieder eine neue Landschaft vor mir und ich setzte mich aufrechter hin. Wir fuhren jetzt mitten durch den Tillamook State Forest. Riesige Douglasien mit dicken Stämmen und tiefen Grüntönen wuchsen aus der Erde und säumten die Straße. Ein breiter Fluss schlängelte sich eine ganze Weile neben dem Wilson River Highway entlang, verschwand und tauchte wieder auf. Das klare grüne Band begleitete uns fast bis zum nächsten Ort, zweigte dann nach rechts ab und verließ uns. In den letzten Stunden hatte ich beinahe mehr von der Welt und ihrer Beschaffenheit gesehen als in meinem gesamten bisherigen Leben. Das stimmte mich gleichermaßen aufgeregt, wie sentimental.
Wir erreichten Tillamook, ein hübsches kleines Städtchen mit vielen Touristenläden und einer Fabrik mit dem Namen ›Tillamook Cheese‹ in dicken käsegelben Lettern, fuhren rechter Hand weiter auf dem Oregon Coast Highway und näherten uns der Küste. Ein Straßenschild warnte vor Tsunami Gefahr und verwies auf eine Tsunami Evacuation Route. Ich musste grinsen, meine verschrobene Fantasie ging mit mir durch und ich stellte mir schreiende Menschen vor, die panisch wegrannten, im Hintergrund eine riesige, dunkle Welle…
»Jetzt sind wir gleich da. Nur noch wenige Minuten und du siehst dein neues Zuhause«, unterbrach Dan mein Gedankenspiel. Er freute sich richtig und Brenda, die Mom genannt werden wollte, schaute lächelnd zu mir nach hinten.
Ich konnte nur nicken, denn plötzlich geschah etwas mit mir. Ein Loch öffnete sich unter meiner Brust und raubte mir beinahe den Atem. Ein Ziehen breitete sich in meinem Körper aus, etwas zog und zerrte an einem inneren Punkt.
Links neben dem Highway hatte sich der Tillamook Bay eröffnet, wie Mom mir erklärte.
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