Ein wenig getröstet wendete er sich um. Klara stand vor ihm und sagte: „Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten Versuch machen.“ Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leicht schäumenden, in hohe Gläser gefüllten Getränken, die Karl unbekannt waren und die er zu verkosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen Elbogen auf dem Tisch und sein ganzes Gesicht Herrn Pollunder möglichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt hätte, hätte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen und kein Geschäft. Während Herr Pollunder mit freundlichem Blick Karl zur Türe folgte, sah sich Green, trotzdem man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines Gegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im geringsten nach Karl um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck einer Art Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Karl für sich, und Green für sich solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung eines von beiden herstellen. „Wenn er das meint“, sagte sich Karl, „dann ist er ein Narr. Ich will wahrhaftig nichts von ihm und er soll mich auch in Ruhe lassen.“ Kaum war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein, daß er sich wahrscheinlich unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto williger gieng er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah, dessen dicken Schaft jener mit beiden Händen umschlossen hielt. „Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt“, erklärte Klara. „Wir haben dieses Haus erst vor kurzem gekauft und es gänzlich umbauen lassen, soweit sich ein altes Haus mit seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen läßt.“ „Da gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser“, sagte Karl. „Natürlich“, sagte Klara lachend und zog ihn weiter. „Sie haben merkwürdige Begriffe von Amerika.“ „Sie sollen mich nicht auslachen“, sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er schon Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.
Im Vorübergehn stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür auf und sagte ohne anzuhalten: „Hier werden Sie schlafen.“ Karl wollte natürlich das Zimmer sich gleich anschauen, aber Klara erklärte ungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorher mitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin und her, schließlich meinte Karl, er müsse sich nicht in allem nach Klara richten, riß sich los und trat in das Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einen Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte Vögelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht war, konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Karl bedauerte die elektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt bekommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja eine Taschenlampe unentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen gehabt, hätte man die Diener schlafen schicken können. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus. Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes zu drängen. Die Pfeife eines Newyorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land. Sonst war es still.
Aber nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich bös rief sie: „Was soll denn das?“ und klatschte auf ihren Rock. Karl wollte erst antworten, bis sie höflicher war. Aber sie gieng mit großen Schritten auf ihn zu, rief: „Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?“ und stieß ihn mit Absicht oder bloß in der Erregung derartig an die Brust, daß er aus dem Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick vom Fensterbrett gleitend mit den Füßen den Zimmerboden berührt. „Jetzt wäre ich bald herausgefallen“, sagte er vorwurfsvoll. „Schade daß es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig. Ich stoße Sie noch einmal hinunter.“ Und wirklich umfaßte sie ihn und trug ihn, der verblüfft sich zuerst schwer zu machen vergaß, mit ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und umfaßte nun sie. „Ach Sie tun mir weh“, sagte sie gleich. Aber nun glaubte sie Karl nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los. Es war auch so leicht sie in ihrem engen Kleid zu umfassen. „Lassen Sie mich“, flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er mußte sich anstrengen sie zu sehn, so nahe war sie ihm, „lassen Sie mich, ich werde Ihnen etwas Schönes geben.“ „Warum seufzt sie so“, dachte Karl, „es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht“, und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich nach einem Augenblick unachtsamen schweigenden Dastehns fühlte er wieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib und sie hatte sich ihm entwunden, faßte ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich mit großartiger Regelmäßigkeit Athem holend gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Karl hin und sagte, ohne sich allzusehr zu ihm hinabzubeugen: „Jetzt rühr Dich wenn Du kannst.“ „Katze, tolle Katze“, konnte Karl gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und Scham rufen, in dem er sich befand. „Du bist ja wahnsinnig, Du tolle Katze.“ „Gib acht auf Deine Worte“, sagte sie und ließ die eine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfieng, daß Karl ganz unfähig war, etwas anderes zu tun, als Luft zu schnappen, während sie mit der andern Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise sie berührte, sie wieder undzwar immer weiter in die Luft zurückzog und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfahren lassen konnte. „Wie wäre es“, fragte sie dabei, „wenn ich Dich zur Strafe für Dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige nachhause schicken wollte. Vielleicht wäre es Dir nützlich für Deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keine schöne Erinnerung abgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein erträglich hübscher Junge und hättest Du Jiu-Jitsu gelernt, hättest Du wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem – es verlockt mich geradezu riesig Dich zu ohrfeigen so wie Du jetzt daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern, wenn ich es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, daß ich es fast gegen meinen Willen tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis Dir die Backen anschwellen. Und vielleicht bist Du ein Ehrenmann – ich möchte es fast glauben – und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und Dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist Du auch so gegen mich gewesen. Gefalle ich Dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht auf mein Zimmer zu kommen? Achtung! jetzt hätte ich Dir schon fast unversehens die Ohrfeige aufgepelzt. Wenn Du heute also noch so loskommen solltest, benimm Dich nächstens feiner. Ich bin nicht Dein Onkel, mit dem Du trotzen kannst. Im übrigen will ich Dich noch darauf aufmerksam machen, daß wenn ich Dich ungeohrfeigt loslasse Du nicht glauben mußt, daß Deine jetzige Lage und wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das Gleiche sind, solltest Du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehn, Dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das alles erzähle.“ Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, in seinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand an seinem Hals, wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.
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