Sie saßen eng beieinander und Herr Pollunder hielt Karls Hand in der seinen, während er erzählte. Karl wollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei er ungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfe der Erzählungen früher ankommen als in Wirklichkeit. Trotzdem er am Abend noch niemals durch die Newyorker Straßen gefahren war, und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die Richtung wechselnd wie in einem Wirbelwind, der Lärm jagte, nicht wie von Menschen verursacht sondern wie ein fremdes Element, kümmerte sich Karl, während er Herrn Pollunders Worte genau aufzunehmen suchte, um nichts anderes als um Herrn Pollunders dunkle Weste, über die quer eine goldene Kette ruhig hieng. Aus den Straßen, wo das Publikum in großer unverhüllter Furcht vor Verspätung im fliegenden Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren, zu den Teatern drängte, kamen sie durch Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihr Automobil durch Polizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen gewiesen wurde, da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die im Streik standen besetzt waren, und nur der notwendigste Wagenverkehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden konnte. Durchquerte dann das Automobil aus dunkleren, dumpf hallenden Gassen kommend, eine dieser ganzen Plätzen gleichenden Straßen, dann erschienen nach beiden Seiten hin in Perspektiven, denen niemand bis zum Ende folgen konnte, die Trottoire angefüllt mit einer in winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesang einheitlicher war, als der einer einzigen Menschenstimme. In der freigehaltenen Fahrbahn aber sah man hie und da einen Polizisten auf unbeweglichem Pferd oder Träger von Fahnen oder beschriebenen über die Straße gespannten Tüchern oder einen von Mitarbeitern und Ordonanzen umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen der Elektrischen Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte, und nun leer und dunkel dastand, während der Führer und der Schaffner auf der Platform saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standen weit entfernt von den wirklichen Demonstranten und verließen ihre Plätze nicht trotzdem sie über die eigentlichen Ereignisse im Unklaren blieben. Karl aber lehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte, die Überzeugung, daß er bald in einem beleuchteten, von Mauern umgebenen, von Hunden bewachten Landhause ein willkommener Gast sein werde, tat ihm über alle Maßen wohl, und wenn er auch wegen einer beginnenden Schläfrigkeit, nicht mehr alles was Herr Pollunder sagte fehlerlos oder wenigstens nicht ohne Unterbrechungen auffaßte, so raffte er sich doch von Zeit zu Zeit auf und wischte sich die Augen, um wieder für eine Weile festzustellen, ob Herr Pollunder seine Schläfrigkeit bemerke, denn das wollte er um jeden Preis vermieden wissen.
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III
Ein Landhaus bei New York
„Wir sind angekommen“, sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karls verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung Newyorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume, zwischen denen – das Gitter war schon geöffnet – ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubte Karl zu bemerken, daß die Fahrt doch ziemlich lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine Mädchenstimme neben sich sagen: „Da ist ja endlich der Herr Jakob.“ „Ich heiße Roßmann“, sagte Karl und faßte die ihm hingereichte Hand eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen erkannte. „Er ist ja nur Jakobs Neffe“, sagte Herr Pollunder erklärend, „und heißt selbst Karl Roßmann.“ „Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hierzuhaben“, sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viel lag. Trotzdem fragte Karl noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen auf das Haus zuschritt: „Sie sind das Fräulein Klara?“ „Ja“, sagte sie und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hause her auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, „ich wollte mich aber hier in der Finsternis nicht vorstellen.“ Ja hat sie uns denn am Gitter erwartet? dachte Karl, der im Gehen allmählich aufwachte. „Wir haben übrigens noch einen Gast heute abend“, sagte Klara. „Nicht möglich!“ rief Pollunder ärgerlich. „Herrn Green“, sagte Klara. „Wann ist er gekommen?“ fragte Karl wie in einer Ahnung befangen. „Vor einem Augenblick. Habt Ihr denn sein Automobil nicht vor dem Eueren gehört?“ Karl sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache beurteile, aber der hatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte bloß etwas stärker im Gehn. „Es nützt nichts nur knapp außerhalb Newyorks zu wohnen, von Störungen bleibt man nicht verschont. Wir werden unsern Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen müssen. Und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen ehe ich nachhause komme.“ Sie blieben an der Freitreppe stehn. „Aber Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier“, sagte Klara, die offenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber über sich heraus beruhigen wollte. „Warum kommt er dann gerade heute abend“, sagte Pollunder und die Rede rollte schon wütend über die wulstige Unterlippe, die als loses schweres Fleisch leicht in große Bewegung kam. „Allerdings!“ sagte Klara. „Vielleicht wird er bald wieder weggehn“, bemerkte Karl und staunte selbst über das Einverständnis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihm gänzlich fremden Leuten befand. „Oh nein“, sagte Klara, „er hat irgend ein großes Geschäft für Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er hat mir schon im Spaß gedroht, daß ich wenn ich eine höfliche Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen.“ „Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht“, rief Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmste erreicht. „Ich hätte wahrhaftig Lust“, sagte er und wurde freundlicher durch den neuen Gedanken, „ich hätte wahrhaftig Lust, Sie Herr Roßmann wieder ins Automobil zu nehmen und zu Ihrem Onkel zurückzubringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein gestört und wer weiß wann Sie uns nächstens Ihr Herr Onkel wieder überläßt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder zurück, so wird er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können.“ Und er faßte Karl schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber Karl rührte sich nicht und Klara bat, ihn hierzulassen, denn zumindestens sie und Karl würden von Herrn Green nicht im geringsten gestört werden können und schließlich merkte auch Pollunder, daß selbst sein Entschluß nicht der festeste war. Überdies – und dies war vielleicht das Entscheidende – hörte man plötzlich Herrn Green vom obersten Treppenaufsatz in den Garten hinunterrufen: „Wo bleibt ihr denn?“ „Kommt“, sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm giengen Karl und Klara, die einander jetzt im Licht studierten. „Die roten Lippen die sie hat“, sagte sich Karl und dachte an die Lippen des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter verwandelt hatten. „Nach dem Nachtmahl“, so sagte sie, „werden wir wenn es Ihnen recht ist gleich in meine Zimmer gehn, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind, wenn schon Papa sich mit ihm beschäftigen muß. Und Sie werden dann so freundlich sein mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt, wie gut Sie das treffen, ich aber bin leider ganz unfähig Musik auszuüben und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe.“ Mit dem Vorschlag Klaras war Karl ganz einverstanden, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit in ihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen Gestalt Greens – an Pollunders Größe hatte sich Karl eben schon gewöhnt – die sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinaufstiegen, langsam entwickelte, wich allerdings von Karl jede Hoffnung, diesem Manne den Herrn Pollunder heute abend irgendwie zu entlocken.
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