„Woher kennst Du den Mann?“ fragte Karl.
„Er kommt manchmal auch herauf“, sagte Robinson.
„Herauf?“ Karl schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.
„Du kannst ruhig staunen“, fuhr Robinson fort, „selbst ich habe gestaunt, wie mir das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn Brunelda nicht zuhause war, hat sich der Mann von dem Diener in ihre Zimmer führen lassen und immer eine Kleinigkeit als Andenken mitgenommen und immer etwas sehr Teueres und Feines für Brunelda zurückgelassen und dem Diener streng verboten zu sagen von wem es ist. Aber einmal als er etwas – wie der Diener sagte und ich glaub es – geradezu Unbezahlbares aus Porzellan mitgebracht hatte, muß Brunelda es irgendwie erkannt haben, hat es sofort auf den Boden geworfen, ist darauf herumgetreten, hat es angespuckt und noch einiges andere damit gemacht, so daß es der Diener vor Ekel kaum heraustragen konnte.“
„Was hat ihr denn der Mann getan?“ fragte Karl.
„Das weiß ich eigentlich nicht“, sagte Robinson. „Ich glaube aber, nichts besonderes, wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich habe ja schon manchmal mit ihm darüber gesprochen. Er erwartet mich täglich dort an der Straßenecke, wenn ich komme, so muß ich ihm Neuigkeiten erzählen, kann ich nicht kommen, wartet er eine halbe Stunde und geht dann wieder weg. Es war für mich ein guter Nebenverdienst, denn er bezahlt die Nachrichten sehr vornehm, aber seit Delamarche davon erfahren hat, muß ich ihm alles abliefern und so geh ich seltener hin.“
„Aber was will der Mann haben?“ fragte Karl, „was will er denn nur haben? Er hört doch, sie will ihn nicht.“
„Ja“, seufzte Robinson, zündete sich eine Cigarette an und blies unter großen Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich anders zu entschließen und sagte: „Was kümmert das mich? Ich weiß nur, er möchte viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem Balkon liegen dürfte, wie wir.“
Karl stand auf, lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße hinunter. Der Mond war schon sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht aber noch nicht. Die am Tag so leere Gasse war besonders vor den Haustoren gedrängt voll Menschen, alle waren in langsamer schwerfälliger Bewegung, die Hemdärmel der Männer, die hellen Kleider der Frauen hoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohne Kopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsherum waren nun insgesamt besetzt, dort saßen beim Licht einer Glühlampe die Familien je nach der Größe des Balkons um einen kleinen Tisch herum oder bloß auf Sesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstens die Köpfe aus dem Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die Füße zwischen den Geländerstangen hinausgestreckt und lasen Zeitungen, die fast bis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar stumm aber unter starken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten den Schooß voll Näharbeit und erübrigten nur hie und da einen kurzen Blick für ihre Umgebung oder für die Straße, eine blonde schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte immerfort, verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück, das sie gerade flickte, selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden es die Kinder einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel. Im Innern vieler Zimmer waren Grammophone aufgestellt und bliesen Gesang oder Orchestralmusik hervor, man kümmerte sich nicht besonders um diese Musik, nur hie und da gab der Familienvater einen Wink und irgendjemand eilte ins Zimmer hinein, um eine neue Platte einzulegen. An manchen Fenstern sah man vollständig bewegungslose Liebespaare, an einem Fenster Karl gegenüber stand ein solches Paar aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und drückte mit der Hand ihre Brust.
„Kennst Du jemanden von den Leuten hier nebenan?“ fragte Karl Robinson, der nun auch aufgestanden war und weil es ihn fröstelte außer der Bettdecke auch noch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.
„Fast niemanden. Das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung“, sagte Robinson und zog Karl näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können, „sonst hätte ich mich augenblicklich nicht gerade zu beklagen. Die Brunelda hat ja wegen des Delamarche alles was sie hatte verkauft und ist mit allen ihren Reichtümern hierher in diese Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm ganz widmen kann und damit sie niemand stört, übrigens war das auch der Wunsch des Delamarche.“
„Und die Dienerschaft hat sie entlassen?“ fragte Karl.
„Ganz richtig“, sagte Robinson. „Wo sollte man auch die Dienerschaft hier unterbringen? Diese Diener sind ja sehr anspruchsvolle Herren. Einmal hat Delamarche bei der Brunelda einen solchen Diener einfach mit Ohrfeigen aus dem Zimmer getrieben, da ist eine nach der andern geflogen, bis der Mann draußen war. Natürlich haben die andern Diener sich mit ihm vereinigt und vor der Tür Lärm gemacht, da ist Delamarche herausgekommen (ich war damals nicht Diener, sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Dienern beisammen) und hat gefragt: ‚Was wollt ihr?‘ Der älteste Diener, ein gewisser Isidor, hat daraufhin gesagt: ‚Sie haben mit uns nichts zu reden, unsere Herrin ist die gnädige Frau.‘ Wie Du wahrscheinlich merkst haben sie Brunelda sehr verehrt. Aber Brunelda ist ohne sich um sie zu kümmern, zu Delamarche gelaufen, sie war damals doch noch nicht so schwer wie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküßt und ‚liebster Delamarche‘ genannt. ‚Und schick doch schon diese Affen weg‘, hat sie endlich gesagt. Affen – das sollten die Diener sein, stell Dir die Gesichter vor, die sie da machten. Dann hat die Brunelda die Hand des Delamarche zu ihrer Geldtasche hingezogen die sie am Gürtel trug, Delamarche hat hineingegriffen und also angefangen die Diener auszuzahlen, die Brunelda hat sich nur dadurch an der Auszahlung beteiligt, daß sie mit der offenen Geldtasche im Gürtel dabei gestanden ist. Delamarche mußte oft hineingreifen, denn er verteilte das Geld, ohne zu zählen und ohne die Forderungen zu prüfen. Schließlich sagte er: Da Ihr also mit mir nicht reden wollt, sage ich Euch nur im Namen Bruneldas ‚Packt Euch, aber sofort.‘ So sind sie entlassen worden, es gab dann noch einige Processe, Delamarche mußte sogar einmal zum Gericht, aber davon weiß ich nichts genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat Delamarche zur Brunelda gesagt: ‚Jetzt hast Du also keine Dienerschaft?‘ Sie hat gesagt: ‚Aber da ist ja Robinson.‘ Daraufhin hat Delamarche gesagt und hat mir dabei einen Schlag auf die Achsel gegeben: ‚Also gut, Du wirst unser Diener sein.‘ Und Brunelda hat mir dann auf die Wange geklopft, wenn sich die Gelegenheit findet, Roßmann, laß Dir auch einmal von ihr auf die Wangen klopfen, Du wirst staunen, wie schön das ist.“
„Du bist also der Diener des Delamarche geworden?“ sagte Karl zusammenfassend.
Robinson hörte das Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: „Ich bin Diener, aber das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, Du selbst wußtest es nicht, trotzdem Du doch schon ein Weilchen bei uns bist. Du hast ja gesehn, wie ich in der Nacht bei Euch im Hotel angezogen war. Das Feinste vom Feinen hatte ich an, gehn Diener so angezogen? Nur ist eben die Sache die, daß ich nicht oft weggehn darf, ich muß immer bei der Hand sein, in der Wirtschaft ist eben immer etwas zu tun. Eine Person ist eben zu wenig für die viele Arbeit. Wie Du vielleicht bemerkt hast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer herumstehn, was wir eben bei dem großen Auszug nicht verkaufen konnten, haben wir mitgenommen. Natürlich hätte man es wegschenken können, aber Brunelda schenkt nichts weg. Denk Dir nur, welche Arbeit es gegeben hat, diese Sachen die Treppe heraufzutragen.“
„Robinson, Du hast das alles heraufgetragen?“ rief Karl.
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