Aber ist diese behauptete größte Schwäche der Rotters – ihr spielerischer, zu jedem Risiko bereiter Wagemut – nicht insgeheim ihre größte Stärke?
Apel sieht das anders: „Hätte Friederike versagt, so wären die Rotters schon damals erledigt gewesen“, meint er, „denn die Hauptdarsteller hatten ihre langfristigen Verträge, die erfüllt werden mussten, in der Tasche“. Apel in missmutigem Ton weiter: „Im nächsten Winter 29/30 gab es im Metro[pol] Lehárs Land des Lächelns , eine Operette, die vor Jahren unter der Bezeichnung Die gelbe Jacke in Wien nicht angesprochen hatte. Lehár hatte alles zur Restaurierung dieses Werkes getan und besonders für Tauber den großen Schlager Dein ist mein ganzes Herz eingefügt. Vera Schwarz glänzte mit ihrer großen Kunst, und so war ein zweiter bedeutender Erfolg gezeitigt, wenn auch nicht in dem Ausmaße wie der von Friederike . Die Rotters waren in dieser Zeit auf ihrer höchsten Höhe. Die Schuldenlast war erträglich, die Gläubiger, besonders die Banken, die noch alte Forderungen hatten, drängten nicht nennenswert, aber trotz allem begann damals schon die Theaterkonjunktur, ebenso wie die der gesamten Wirtschaft, abzuflauen.“ 23
Fritz Rotter hat ein sehr künstlerisches Verhältnis zum Geld – für ihn ist es der Stoff, der die Wirklichkeit mit der Welt der Fiktion verbindet und am Ende selbst ein Stück Fiktion wird, reine Phantasie: Haben nicht Krieg, Inflation, Deflation und nun die Große Depression gezeigt, dass Geld die Wandelhaftigkeit selbst ist? Ein Ausdruck von Irrealität – und gerade deswegen Spielmittel und Bühne aller Spiele?
HOFFEN AUF FRITZI MASSARY
Zurück ins Metropol-Theater im September 1932.
Mit mir ist nicht zu spaßen … Ich werde das Kind schon schaukeln … nehme die Sache selbst in die Hand, ich rette das Vaterland , singt Massary . Die Sache, die man Liebe nennt, ob einst, ob jetzt … wird überschätzt. Die ganze große Leidenschaft – la grande passion –, wenn’s auch mitunter Freuden schafft, was hat man schon davon?
Operetten wie Eine Frau, die weiß, was sie will brauchen ein Chanson, das der Hauptfigur auf den Leib geschrieben ist und dem Publikum noch Tage und Wochen im Kopf nachklingt. Fritzi Massary singt:
Was so die Gesellschaft redet zwischen Lunch und Dinner nachmittags bei Five o’clock von Madame X und Madame U. Am besten ist’s, man hörte den Leuten gar nicht zu! ‚Die hat ihren Mann betrogen, die ist dem Chauffeur gewogen.‘ Und man urteilt ganz en bloc: ‚Mit Mister Z ist sie intim, er hat mit ihr etwas und sie hat was mit ihm.‘ Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben, kein Verhältnis haben, kein Verhältnis haben? Ist sie hübsch, wird man sagen: ‚Na die muss doch eins haben, ’s wär zu dumm!‘ Na, und wenn man schon so redet und sie hat keins, na dann ist es doch viel besser gleich, sie hat eins! Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben? Können Sie mir sagen: Warum? Man lacht diskret und maliziös, und so entsteht die ganze Chronique scandaleuse!
Scheinbar eine Luxus-Sorge in der Metropole der schreienden Gegensätze, aber überall nachgesungen in Berlin. Obwohl die für Herbst 1932 angekündigte Mode extrem lange und eng geschnittene Damenmäntel mit Pelzbesatz am Hals und kleinem Hütchen vorsieht, preisen die Zeitungen Mittel gegen Magerkeit an: „Von den Männern bewundert – weil sie schön ist. Vor kurzem war sie noch mager, zeigte zu viel Knochen statt gesunden glatten Fleisches und war noch blass dazu. Sie nahm ‚Eta-Tragol-Bonbons‘.“ Mit denen lasse sich „das Körpergewicht in einigen Wochen um 10 bis 30 Pfund erhöhen“: „Die unschönen Knochenvorsprünge an Wangen und Schultern schwinden.“ 24Als Schönheitsideal gilt ein absichtlich sehr schmal geschminkter Mund, vielleicht weil dies die Augen größer erscheinen lässt.
Das werden Fritz und Alfred kaum noch wahrnehmen, bei ihnen geht es ums Ganze. Mit Pfändungen und Schulden sind sie mittlerweile so übel dran, dass ein Großerfolg allein nicht reicht – sie brauchen pro Spielzeit deren drei.
Zwei haben sie in diesem bitteren Sommer bereits.
Am 19. August 1932 hatte im Theater des Westens das Singspiel Dreimäderlhaus (1916) über den Komponisten Franz Schubert Premiere. „Ein umjubelter Sänger wie Richard Tauber tritt in der Maske des Meisters auf, stellt ihn respektvoll dar, der Operettenform überlegen. Taubers Beliebtheit, seine bemerkenswerte Leistung holen die Verbrauchtheit des Dreimäderlhauses auf. Bei einem Höchstgrad sommerlicher Temperatur musste der Künstler jede Gesangsnummer, jedes Duett wiederholen.“ 25„Gitta Alpár warf aus der Direktions-Loge, in der übrigens Fritz Rotter fehlte, dem großen Kollegen Blumen zu“ 26, das Dreimäderlhaus „trägt der Direktion Rotter und den Sängern den erhofften Erfolg ein“. 27
Den zweiten Erfolg haben sie drei Tage später errungen, am 22. August 1932, mit Gitta Alpár im Admiralspalast in der Uraufführung von Katharina. Eine russische Ballade unter Alfreds Regie. „Eine Premiere mit Siedetemperatur des Beifalls“ 28, „das Publikum ist hingerissen“ – „so bedeutet die Katharina die völlige Abkehr von einem Operettenschema, das schon zur Landplage geworden war“. 29
In der linken Rangloge zeigten sich beide, Fritz und Alfred Rotter, vor Aufführungsbeginn, und zwar mit den Schauspielstars Grete Mosheim und Oskar Homolka, „und grüßen die Abgesandten der Filmindustrie“, die „Platz genommen haben“. 30
„Trotz Hitze nahm der Jubel unbeschreibliche Formen an. Wer war da? Ist das noch Gegenwart? Sind wir nicht am Ende um ein Jahrzehnt zurückverschlagen? Eine Welt stürzt zusammen, eine Zeit gebiert unter Qualen eine neue Welt – und in der Friedrichstraße, im Berlin von 1932, findet eine Premiere mit einem Gepränge statt, das man nicht fassen kann. Verstopft ist die breite Passage in den Theaterhof von neugierigen Menschen, blockiert ist der ganze Stadtteil bis Unter den Linden von Autos. In der Pause eilt alles aus der Hitze des Parketts auf den luftigen Hof; es ist ein Kommen und Sich-Begegnen, einer riesigen Familie gleich. Groß angezogene Frauen stoßen auf hemdsärmelige Gestalten. In der ersten Reihe der General von Schleicher neben dem Reichskanzler von Papen, der sicherlich beschließt, auch die nächsten vier Alpár-Premieren als Kanzler erleben zu wollen.“ 31
Wer das liest, kann nicht ahnen, dass vier Monate später, am 17. November 1932, Papen zum Rücktritt gezwungen und Schleicher die Kanzlerschaft übernehmen wird. Doch auch Schleicher entgeht dem Sturz nicht. „Papen wollte seine Rache an Schleicher nehmen, was ihm unter den obwaltenden Verhältnissen nur mit Hitler gelingen konnte.“ 32Die vor Intrigen strotzende Operette Katharina sieht sich von der Gegenwart schon bald überholt.
Deutliche Vorbehalte gegenüber der Aufführung äußert Herbert Jhering, der den Rotter-Brüdern kaum etwas durchgehen lässt. Lob hat er nur für den Star dieses Abends übrig: „Gitta Alpár hat in ihrer Stimme jenes erregende Fluidum, das Menschen hinreißt, jenen sinnlichen Glanz, der Tausende berauscht. Sie tritt auf und beherrscht Bühne und Zuschauerraum. […] Niemand kann der Direktion Rotter nachsagen, dass sie das Publikum nicht kenne, dass sie vom Erfolg nichts verstände. Diesmal hat sie sich geirrt. Selbst wenn man sich ganz auf das Genre einstellt, das im Admiralspalast gepflegt wird, war die Operette schlecht.“ 33
Nun hängt alles am dritten Wurf, somit an Fritzi Massary im Metropol-Theater . Massary ist gerade fünfzig geworden, lässt aber das Publikum über ihr Alter rätseln. Verheiratet ist sie mit dem ihr an Ruhm und Wirkung in nichts nachstehenden Schauspieler Max Pallenberg. Ihr Erfolg würde den Bestand der Rotterbühnen für die kommenden Monate sichern – wenigstens bis Dezember 1932. Dann müssten drei weitere Reißer her – so steht, mitten in der Weltwirtschaftskrise, die Wette.
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