1 ...8 9 10 12 13 14 ...29 Der langjährige Theatermeister am Intimen Theater in Nürnberg, Fritz Lehmeyer, sagt im Rückblick vom Februar 1918, es soll „einige Male vorgekommen sein, dass die Direktoren [Fritz und Alfred] samt dem übrigen Personal kurz vor Beginn der Vorstellung sich über das Stück noch nicht einig waren und dass sie einmal tatsächlich beabsichtigten, die nicht einstudierten Rollen bei der Vorstellung abzulesen. Aus diesem Anlass soll das Publikum mit großer Unzufriedenheit das Theater verlassen haben.“
Unverkennbar haben Fritz und Alfred 1916 für die von Propaganda und Kriegsgeschrei verwüstete Kulturlandschaft mit Sommertheater etwas Harmloses gesucht. So verpatzt und improvisiert sie auch waren – gänzlich ohne Pointen dürften die Aufführungen der Brüder aber nicht gewesen sein.
Die Hochzeitsreise aus dem Jahr 1859 ist ein Spiel um latente Homosexualität, und insofern für Fritz Rotter, der damals inszenierte, keine unwichtige Wahl: Diese Komödie von Roderich Benedix macht sich über einen Professor lustig, der Frauen nur aus seinen misogynen Büchern kennt. Erst eine Erbschaft – die daran gebunden ist, dass er sich verheiratet – bringt ihn an die Seite einer Frau, die in einem Monolog klarmacht:
„Je nun, er kennt mich ja noch nicht, er kennt überhaupt keine Frauen, er meint ganz unbefangen: Wir müssten so behandelt werden […]. Es gilt, ihn über das Falsche seiner Meinung zu belehren, ihm begreiflich zu machen, was eine Frau ist […].“
Diese an Menander und Plautus anknüpfende Geschlechterkomödie attackiert mit viel Situationswitz das damalige bürgerliche Männerbild frontal. – „Du wagst es, Femininum!“, repliziert er hilflos und fügt hinzu: „Ich habe mich im Kreise von Frauen niemals wohl befunden.“ – Sie sagt: „Sieh, du kennst weder mein Geschlecht noch die Art, mit uns umzugehen, und deshalb bin ich nachsichtig gegen dich.“ Und setzt nicht nur ihren Wunsch nach einer Hochzeitsreise, sondern auch ihre Philosophie durch: „Zwei Menschen, die sich für das Leben miteinander verbinden, […] müssen ihre Seelen austauschen in unbegrenztem Vertrauen, in gegenseitiger Liebe.“ 60
Vom 7. August bis 2. September 1916 sind die Rotters polizeilich korrekt unter ihrer Berufsbezeichnung „Juristen“ angemeldet. 61Die erwähnte feindselige Denunziation „mehrerer Schauspieler“, die nur von einer Person handschriftlich und in der ersten Person verfasst ist, 62behauptet jedoch das Gegenteil: Es „ schienen die beiden Brüder Alfred und Fritz Schaie, die sämtliche Veranstaltungen gemeinsam machten, Ursache zu haben, das Licht der Polizei zu scheuen. […] Niemand durfte wissen, wo sie wohnten, und im Hotel hatten sie falsche Namen angenommen. Zeitweilig gaben sie sich auch dort als Offiziere aus. […] Ungefähr der gleichen Sachen machte sich Herr Fritz Schaie in Wiesbaden schuldig. Dort schmierte er in der gleichen hilflosen Art und Weise […].“ 63
„Schmiere“ auf der Bühne hat der Theaterkritiker Richard Wilde Jahre später wie folgt definiert: „Schmiere: das heißt Dienst an der Kunst mit untauglichen Mitteln. Heißt: Personalmangel, Kostümmangel, Dekorationsmangel, Requisitenmangel. Heißt: Unbekümmertheit um Stilfragen, aber geniale Erfindungskraft, die auch die verzweifeltsten Schwierigkeiten zu überwinden weiß. Für jeden Mangel ein Ersatz, er sei so lächerlich wie er mag: Schmiere.“ 64
Den Denunzianten geht es – noch ist Krieg – auch nicht um edlere oder unedlere Formen des Theaters, sondern darum, Fritz daran zu hindern, 1917/1918 am Trianon-Theater Berlin, wo er endlich wieder mit Erfolg und ganz seriös arbeitet, seine erste eigene Theaterkonzession zu bekommen. Nur deshalb wühlen sie und andere anonyme Gegenspieler bei der Berliner Theaterpolizei die alten Geschichten nochmals auf und werfen Fritz Rotter „Drückebergerei“ vor: 65„[…] um seiner militärischen Dienstpflicht zu entgehen, hielt er sich angeblich in einem dortigen Sanatorium auf. Während die Militärbehörde dahingehend getäuscht wurde, Fritz Schaie befinde sich leidend im Sanatorium, machte derselbe Reisen nach Dresden, Hannover, Berlin und ganz Deutschland. Fritz Schaie ist ein durch und durch gewissenloser, haltloser Mensch mit ausschließlich homosexuellen Neigungen, der gänzlich unter dem Einfluss seines Bruders Alfred Schaie steht.“ Er sei „ein vollständig willenloser Mensch und nur das ausführende Werkzeug seines Bruders […].“ Im Denunziationsbrief wird zudem Alfred verdächtigt, er sei „ein großer Schieber, der auch schon ein halbes Jahr wegen Wechselfälschungen verbüßt hat“ – wofür es in den Akten nicht den geringsten Hinweis gibt; es ist eine aus der Luft gegriffene Vermutung, die in Unkenntnis der wirklichen Zusammenhänge lediglich die tatsächlich ausgestandene Untersuchungshaft des „unsicheren Heerespflichtigen“ als Fama fortspinnt. Niemals nämlich würde Alfred mit einer Vorstrafe später eine Theaterkonzession erhalten haben, der „Dirigent“ der Theaterpolizei Curt von Glasenapp hätte in diesem Fall von vornherein jedes Gesuch abgelehnt.
Fritz, 1916 als Soldat ins Train-Bataillon eingeteilt, legt im März 1916, um ins Lazarett zu kommen – und das ist der tatsächliche Kasus, der danach viele Gerüchte befeuert –, „ein von Dr. Mansfeld in Berlin ausgestelltes ärztliches Zeugnis“ vor, wonach er „seit den Entwicklungsjahren an einer fetischistischen Triebstörung“ leide, „die sich auf die weibliche Haarfrisur erstreckt“: „Der Zustand trete periodisch auf […].“ Vorgeblich geht es um eine Theaterperücke und einen Toilettenspiegel, die er sich als Theaterrequisiten ausgeliehen und zurückzugeben versäumt hat. Er geht anscheinend gelegentlich als Frau gekleidet aus. Jedenfalls erreicht er die Aufnahme in eine Klinik. Der Denunziationsbrief wirft ihm dagegen „Fahnenflucht und Drückebergerei“ vor und dass er sich nur „angeblich“ in einem „Sanatorium“ aufhalte. Doch in der Kuranstalt Dietenmühle in Wiesbaden ist er tatsächlich, einem Zeugnis zufolge „seit November 1916 mit Unterbrechungen“ – er darf sich offenbar entfernen, und tut dies auch stets, wenn die Bühnenarbeit, auf die er nicht verzichten will, dies erfordert. Fritz Rotters Leben im Ersten Weltkrieg ist eine deutsche Schwejkiade: Es sei ihm sogar gelungen, kurzfristig als Pächter wieder das Zirkus-Gebäude in Dresden zu übernehmen – während eines „Lazarett-Aufenthalts“ in der Stadt. Eine Zeitung berichtet jedenfalls anekdotenhaft, „sämtliche Sanitätsfeldwebel, Sanitätsunteroffiziere wirkten abends im Zirkus Sarrasani als Claqueure mit, wo der Lazarettkranke Sophokles-Aufführungen veranstaltete.“ 66
Schon am 6. Juni 1916 wird er als „Landsturmmann“ entlassen. 67Sein Berliner Arzt ist der Ansicht, Fritz leide „seit längerer Zeit an allgemeinen, funktionell-nervösen, neurasthenischen Beschwerden, namentlich auch einer hartnäckigen Neuralgie im Gebiete der linken Oberaugenhöhlennerven (‚Neuralgia supraorbitalis‘)“. 68
Der ältere der beiden Brüder, Alfred Rotter, erkrankt im Februar 1916 wie berichtet an einem Nierenleiden; das führt schließlich zur Dienstbefreiung. 69Er ist in den späteren Erfolgsjahren öfter kränklich und leidet an chronischer Gastritis.
Vom Militär vorläufig dispensiert, wagen sie schließlich die Rückkehr nach Berlin. Fritz Rotter wird 1917 Mitinhaber des Trianon-Theaters . 70Es befindet sich an der Georgenstraße 9, unter dem S-Bahn-Bogen am Bahnhof Friedrichstraße, ist 1902 eröffnet worden und bietet Platz für 600 Personen. Vor Kriegsausbruch bevorzugt diese Bühne „französischen Schwank und Sittendrama“ 71. Nun, „unter neuer, literaturbeflissener Leitung“, wird es, wie die um Neutralität bemühte Neue Zürcher Zeitung ironisch feststellt, „entgallisiert“. 72Fritz Rotter erklärt Ende 1917 in einem Lebenslauf, er wolle am Trianon-Theater „aus einer Bühne, die seit Jahren den leichtesten französischen und deutschen Schwänken diente, eine Stätte ernster Kunst […] machen“. 73
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