Der Philosoph Yu sprach: »Man soll nie mehr versprechen, als was sich mit Recht und Billigkeit verträgt; dann kann man stets Wort halten. Man soll sich bei seinen Ehrenbezeugungen immer in den Grenzen des Geziemenden halten, so erspart man sich Selbsterniedrigung und Beschämung. Man soll sich nur an solche Leute eng anschließen, bei denen man nicht befürchten muß, seine Zuneigung wegzuwerfen, so kann man immer durch gegenseitige Hochschätzung mit ihnen verbunden bleiben.«
14. Wonach der Philosoph trachtet
Der Meister sprach: »Ein Edler, der beim Essen nicht nach Sättigung fragt, beim Wohnen nicht nach Bequemlichkeit fragt, eifrig im Tun und vorsichtig im Reden, sich denen, die Grundsätze haben, naht, um sich zu bessern: der kann ein das Lernen Liebender genannt werden.«
Das Streben des höheren Menschen geht nicht auf die Außenwelt, auf Sattessen und bequeme Wohnung, sondern auf eigene moralische Vollkommenheit; deshalb ist er in seinen Handlungen sorgfältig und vorsichtig im Reden. Er strebt nach der Gemeinschaft mit Menschen von moralischer Erfahrung, um durch sie sich zum Rechten weisen zu lassen. Auf diese Weise zeigt sich das wirkliche Bildungsstreben.
15. Fortschritt im Ertragen von Armut und Reichtum
Dsï Gung sprach: »Arm ohne zu schmeicheln, reich ohne hochmütig zu sein: wie ist das?«
Der Meister sprach: »Es geht an, kommt aber noch nicht dem gleich: arm und doch fröhlich sein, reich und doch die Regeln lieben.«
Dsï Gung sprach: »Ein Lied sagt:
Erst geschnitten, dann gefeilt,
Erst gehauen, dann geglättet.
Damit ist wohl eben das gemeint?
Der Meister sprach: »Sï, anfangen kann man, mit ihm über die Lieder zu reden. Sagt man die Folgerung, so kann er den Grund finden.«
Dsï Gung sprach: »Was ist von einem Menschen zu halten, der in der Armut sich von kriechendem Schmeichlersinn und im Reichtum von hochmütiger Einbildung fernzuhalten weiß?«
Der Meister sprach: »Er geht an, aber noch höher ist es zu werten, wenn einer inmitten der Armut die Freude an der Wahrheit sich wahrt und inmitten des Reichtums sich selbst in der Zucht hält.«
Dsï Gung sprach: »Diese Stufenfolge moralischer Vervollkommnung ist ja auch wohl im Liederbuch 14angedeutet, wo es heißt:
Erst geschnitten, dann gefeilt,
Erst gehauen, dann geglättet.
Da sprach der Meister: »Ja, mein Sï 15, du bist reif genug, daß ich mich über das Liederbuch mit dir unterhalten kann; denn wenn man eine Richtung moralischer Entwicklung zeigt, so findest du das zugrunde liegende allgemeine Gesetz heraus.«
16. Verkanntsein und Kennen
Der Meister sprach: »Nicht kümmere ich mich, daß die Menschen mich nicht kennen. Ich kümmere mich, daß ich die Menschen nicht kenne.«
Buch II
We Dschong
1. Der Polarstern
Der Meister sprach: »Wer kraft seines Wesens 1herrscht, gleicht dem Nordstern. Der verweilt an seinem Ort und alle Sterne umkreisen ihn.«
Wie die Sonne nur durch die Überlegenheit ihrer Anziehungskraft die Planeten in ihre Bahnen zwingt, so herrscht der Genius nur durch die immanente Schwerkraft seiner Persönlichkeit ohne alle Vielgeschäftigkeit.
2. Das Liederbuch (Ein reines Herz)
Der Meister sprach: »Des Liederbuchs 2dreihundert Stücke sind in dem einen Wort befaßt: Denke nicht Arges!«
3. Gesetz und Geist bei der Staatsregierung
Der Meister sprach: »Wenn man durch Erlasse leitet und durch Strafen ordnet, so weicht das Volk aus und hat kein Gewißen. Wenn man durch Kraft des Wesens leitet und durch Sitte ordnet, so hat das Volk Gewißen und erreicht (das Gute).«
Eine bürokratische Regierung, die durch amtliche Vorschriften und Erlasse wirken will und durch Strafandrohungen eine gewiße äußere Ordnung aufrecht erhält, wird nur erreichen, daß sich im Volk Methoden ausbilden, die Gesetze zu umgehen, ohne daß sich irgendjemand ein Gewißen daraus macht. Wirklicher Einfluß wird nur dadurch möglich, daß man in inneren Kontakt mit der Volksseele kommt und durch Herausbildung fester Sitten und Gewohnheiten die äußere Ordnung sichert. Dadurch wird erreicht, daß das Volk Ehrgefühl und Achtung bekommt. (Diese Lesart geht auf ein Monument aus der Hanzeit zurück.)
4. Stufen der Entwicklung des Meisters
Der Meister sprach: »Ich war fünfzehn, und mein Wille stand aufs Lernen, mit dreißig stand ich fest, mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr, mit fünfzig war mir das Gesetz des Himmels kund, mit sechzig war mein Ohr aufgetan, mit siebzig 3konnte ich meines Herzens Wünschen folgen, ohne das Maß zu übertreten.«
Der Meister sprach: »Im Alter von fünfzehn Jahren erwachte in mir das Interesse an der Wissenschaft. Mit dreißig Jahren hatte sich mein Charakter im allgemeinen gefestigt. Mit vierzig Jahren hatte ich Zweifel und innere Unklarheiten überwunden. Mit fünfzig Jahren hatte ich einen Einblick gewonnen in die ewigen Gesetze des Weltgeschehens. Mit sechzig Jahren hatte ich die Fähigkeit erworben, aus den Äußerungen anderer Menschen ihr Wesen intuitiv zu erkennen. Mit siebzig Jahren endlich war ich soweit, daß meine Neigungen nirgends mehr mit der Pflicht kollidierten.«
5. Über die Kindespflicht. I: Nicht übertreten
Der Freiherr Mong J fragte nach (dem Wesen) der Kindespflicht. Der Meister sprach: »Nicht übertreten.« Als Fan Tschï hernach seinen Wagen lenkte, erzählte es ihm der Meister und sprach: »Freiherr Mong J befragte mich über die Kindespflicht und ich sprach: »Nicht übertreten.« Fan Tschï sprach: »Was heißt das?« Der Meister sprach: »Sind die Eltern am Leben, ihnen dienen, wie es sich ziemt, nach ihrem Tod sie beerdigen, wie es sich ziemt, und ihnen opfern, wie es sich ziemt.« 3a
Einer der mächtigsten Großen des Staates Lu, der Freiherr Mong J, fragte den Meister, worin die Erfüllung der Kindespflicht bestehe. Er bekam die Antwort: »Im Nichtübertreten.« Ohne sich nach dem Sinn dieses Rätselwortes genauer zu erkundigen, entfernte sich der Frager. Als aber einige Zeit darauf ein dem Freiherrn nahestehender Schüler, Fan Tschï, mit dem Meister zusammen eine Ausfahrt machte, benutzte dieser die Gelegenheit, um die Frage aufzuklären. Er erzählte nämlich seinem Schüler, daß Mong J bei ihm gewesen sei und nach dem Wesen der Kindespflicht gefragt habe, worauf er die Antwort gegeben habe: sie bestehe im Nichtübertreten. Der Schüler erkundigte sich darauf nach dem Sinn dieser Antwort, worauf der Meister ihm denselben erklärte: daß nämlich der Kindespflicht ein über alle Zufälligkeiten erhabenes Sittengesetz zugrunde liege, das keinen Raum für persönliche Zu- oder Abneigungen lasse, vielmehr kategorisch fordere; nicht nur verlange es, daß man den Eltern zu deren Lebzeiten diene, sondern es reiche sogar über den Tod der Eltern hinaus und verlange, daß der letzte Dienst der Beerdigung ihm entsprechend vollzogen und daß selbst über das Grab hinaus das Andenken der Verstorbenen durch die festgesetzten Zeremonien geehrt werde. 4
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