Merkwürdigerweise blieb diese Entdeckung gänzlich unbeachtet. Es dauerte Jahrhunderte, ehe sich ein chinesischer Gelehrter darauf einließ. Erst Ma Ying, der Lehrer des Dsong Hüan, hat die alten Lun Yü wieder aufgenommen. Nun hat ja die Art der Auffindung, die sehr stark an den Fund des Deuteronomiums in Jerusalem erinnert, etwas an sich, das einen gewissen Verdacht nahe legt. Auch mit den »Kaulquappenzeichen« hat es eine eigene Bewandtnis. Die alte chinesische Schrift, wie sie uns auf Orakelknochen, Bronzen und den Steintrommeln in Peking zugänglich ist, hat keineswegs die Form von Kaulquappen. Vielleicht ist die Bezeichnung Kaulquappenzeichen ein Ausdruck, der ursprünglich überhaupt nicht chinesische Zeichen meinte, sondern Keilschriftzeichen, die auf irgendeine Weise nach China gekommen sein mögen. Auch ist recht schwer glaublich, daß die alte Schrift, die bis zur Zeit Tsin Schï Huangs im Gebrauch war, in der kurzen Spanne von einem halben Jahrhundert gänzlich unlesbar geworden sein sollte. Da es sich aber in den alten Lun Yü um eine Rezension handelt, die mit der Rezension von Lu ziemlich übereinstimmte, so können wir die Frage auf sich beruhen lassen, obwohl es natürlich sehr wertvoll wäre, wenn man eine bezeugte Spur des Vorhandenseins einer schriftlichen Sammlung von der Tsindynastie besäße, da die Bezeugung der Quelle von Lu nicht über die Handynastie hinaufgeht.
Was nun die Abfassung eines Werkes mit Namen Lun Yü »Gespräche des Meisters« anlangt, so sind wir imstande, die Tradition, nach der das Werk von den Schülern des Meisters nach dessen Tode niedergeschrieben sei, positiv zu widerlegen. Nicht nur findet sich in unseren Lun Yü eine Stelle ( Buch VIII, 3 und 4), wo der Tod des Schülers Dsong Schen berichtet wird und ein Beamter (Mong Ging) mit seinem posthumen Namen genannt wird, der fünfzig Jahre nach Kungs Tod noch lebte, – das ganze Buch XIXenthält keinen einzigen Ausspruch von Kung, sondern führt unzweideutig in die Zustände der Schulen ein, die seine Jünger nach seinem Tode gegründet. Aber auch die Auskunft, daß die Schüler der Schüler die Lun Yü niedergeschrieben haben, ist unhaltbar.
Man wird sich die Sache wohl so vorzustellen haben, daß Worte des Meisters sich durch mündliche Tradition Generationen lang fortgepflanzt haben, ohne schriftlich gesammelt zu werden. Man macht sich von der Kraft und Treue mündlicher Traditionen im allgemeinen in Europa wenig Begriff, wogegen in China sich das Auswendiglernen großer Texte bis in die neueste Zeit erhalten hat. Wir finden einzelne in den Lun Yü enthaltene Worte in der späteren Literatur bis herab auf Mong Dsï zitiert. Aber die Art des Zitierens läßt erkennen, daß kein geschlossenes Werk mit dem Titel Lun Yü vorlag. Die Worte werden als Worte Kungs zitiert, ohne eine schriftliche Quelle zu nennen. Ganz in derselben Weise werden andere Worte, die sich in Lun Yü nicht finden, als Worte des Meisters erwähnt. Auf der andern Seite wird in Mong Dsï ein Wort, das in Lun Yü als vom Meister gesprochen steht, dem Mong Dsï zugeschrieben. Kurz, man kann mit Sicherheit behaupten, daß zur Zeit des Mong Dsï die Lun Yü noch nicht bestanden. Viel wahrscheinlicher ist es, daß sie erst im Anschluß an das Werk des Mong Dsi entstanden sind. Nachdem die Gespräche des Mong Dsï von seinen Schülern aufgezeichnet vorlagen, lag der Gedanke nah, auch eine ähnliche Sammlung der Gespräche Kungs herauszugeben. An Material teils mündlicher Tradition, teils in andern Werken (besonders Li Gi, Da Hüo, Dschung Yung) vorhanden, fehlte es nicht. Ja, wir haben noch heute außer den Lun Yü so viele Äußerungen Kungs verzeichnet, daß daraus noch im neunzehnten Jahrhundert eine sehr interessante Sammlung konfuzianischer Gespräche unter dem Titel »Kung Dsï Dsï Yü«, die in einer Sammlung von philosophischen Werken erschien, sich hat zusammenstellen lassen.
Daß die Lun Yü nicht zu den alten Werken chinesischer Literatur gehören, beweist auch der Umstand, daß sie nicht unter den fünf Klassikern (Ging) stehen, sondern unter den erst in neuerer Zeit als Schriften zweiten Ranges rezipierten vier Schriften (Schu). Wir werden daher bei aller Anerkennung dessen, daß sie gutes, zuverlässiges Material enthalten, zu dem Schluß kommen müssen, daß sie ihre heutige Gestalt erst in der Handynastie erhalten haben.
Buch I
Hüo Erl
1. Glück in der Beschränkung
Der Meister sprach: »Lernen 1und fortwährend üben: ist das denn nicht auch befriedigend? Freunde haben, die aus fernen Gegenden kommen: ist das nicht auch fröhlich?
Wenn die Menschen einen nicht erkennen, doch nicht murren: ist das nicht auch edel?«
Das Glück besteht in der Möglichkeit, seine Prinzipien durchführen zu können. Aber das hängt nicht von uns ab. Es gibt aber auch ein Glück für den, dem das alles versagt ist. Das Erbe der Vergangenheit sich anzueignen und es ausübend zu besitzen: das gewährt auch Befriedigung. Wenn dann der wachsende Ruhm aus fernen Gegenden Jünger herbeiführt: das ist auch Freude. Von der Welt sich verkannt zu sehen, ohne sich verbittern zu lassen: das ist auch Seelengröße.
2. Ehrfurcht als Grundlage der staatlichen Ordnung
Meister Yu 2sprach: »Daß jemand, der als Mensch pietätvoll und gehorsam ist, doch es liebt, seinen Oberen zu widerstreben, ist selten. Daß jemand, der es nicht liebt, seinen Oberen zu widerstreben, Aufruhr macht, ist noch nie dagewesen. Der Edle pflegt die Wurzel; steht die Wurzel fest, so wächst der Weg. Pietät und Gehorsam: das sind die Wurzeln des Menschentums.« 3
Meister Yu sprach: »Wer sich pietätvoll dem Familienorganismus einordnet, der wird schwerlich ein politischer Oppositionsmann sein. Wer sich von politischer Opposition fernhält, der wird sicher kein Empörer. Ein umsichtiger Regent wird daher im Familiengefühl die Wurzel der staatlichen Ordnung pflegen. Ist diese Wurzel gesund, so durchwächst von ihr aus das Prinzip der pietätvollen Unterordnung das gesamte Staatswesen; denn die Ehrfurcht ist die Grundlage aller sozialen Ordnung.«
Der Meister sprach: »Glatte Worte und einschmeichelnde Mienen sind selten vereint mit Sittlichkeit.«
Diplomatische Gewandtheit und konventionelles Wesen sind unvereinbar mit wirklicher Güte des Charakters.
4. Tägliche Selbstprüfung
Meister Dsong 4sprach: »Ich prüfe täglich dreifach mein Selbst: Ob ich, für andere sinnend, es etwa nicht aus innerstem Herzen getan; ob ich, mit Freunden verkehrend, etwa meinem Worte nicht treu war; ob ich meine Lehren etwa nicht geübt habe.«
Meister Dsong (das hauptsächliche Schulhaupt nach Kungs Tode) sprach: »Ich prüfe mich täglich in dreifacher Hinsicht: ob ich übernommene Verpflichtungen gewissenhaft ausgeführt habe; ob ich im Verkehr mit Freunden immer Wort gehalten habe; ob ich die Lehren, die ich andern gab, selbst auch befolgt habe.«
Der Meister sprach: »Bei der Leitung eines Staates von 1000 Kriegswagen 5muß man die Geschäfte achten und wahr sein, sparsam verbrauchen und die Menschen lieben, das Volk benutzen entsprechend der Zeit.« 6
Auch eine Großmacht läßt sich nach ganz einfachen Prinzipien in geordnetem Zustand halten: Sorgfältigste Erledigung aller Arbeiten und Zuverlässigkeit, Sparsamkeit in den Mitteln und Interesse für die Menschen; bei der Verwendung der Untertanen zu öffentlichen Leistungen: Rücksicht auf die Verhältnisse, in denen sie sich befinden.
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