Die New York Post zeigte mit dem Finger auf sie und diagnostizierte ihr einen »Jeanne-d’Arc-Komplex«, eine Beleidigung, die einen Wutanfall auslöste. Aber es dauerte nicht lange und sie hatte eine äußerst nützliche Regel ein für allemal kapiert: Hör auf damit, Rezensionen zu lesen, gleichgültig, woher sie kommen. Vor missgünstigen Kritikern darfst du nie die Beherrschung verlieren. Und obgleich sie sich strikt daran hielt, errichtete sie irgendwo in ihrem Hinterkopf einen kleinen Glaubenstempel, auf dessen Portal die Übertragung eines gewissen Satzes von Voltaire eingemeißelt war: »Der letzte Kritiker, erwürgt von den Gedärmen des letzten Theatermäzens.«
Die Kritiker, die sie mit ihrer Kunst faszinierte, blieben ihr für alle Ewigkeiten treu. Begriffe wie »Genie« und »proteische Energie« oder auch »nie da gewesene Schönheit« schienen wie von selbst aus ihren Schreibmaschinen herauszusprudeln.
Eine peinliche Situation ergab sich immer dann, wenn bestimmte Rezensenten auf die Idee kamen, ihre Macht auszunutzen. Meistens wichen sie nicht mehr von ihrer Seite, hörten ihr verständnisvoll zu, versuchten zuerst, sie unter den Tisch zu trinken, und dann, sie aufs Kreuz zu legen, und torkelten schließlich total erledigt zu ihrem Taxi oder der nächsten U-Bahn-Station zurück. Sie hatte ein paar auffallende und charakteristische Körpermerkmale, die manche Kritiker am liebsten manuell analysierten. Am berühmtesten war wohl ihr Arsch, der als mindestens so sagenhaft galt wie der von Claudette Colbert und von ihren Fans unter den Zeitungsschreibern auch mit der größten Hingabe diskutiert wurde. Die meisten Kritiker konnten einfach der Versuchung nicht widerstehen, mitten in einem Interview mit zittrigen Händen dieses lebendige Abbild der Aphrodite zu betatschen.
Genug dieser Schwärmereien, o kratzender Rapidograph der Nacht — wir müssen in unserer Geschichte fortfahren, obwohl wir gerne verweilen und noch so manches Kapitel der Beschreibung der erstaunlichen Claudia Pred widmen würden, der Sängerin und Schöpferin des Ausdruckstanzes.

Seit dem Tag, wo sie angefangen hatte, Tanzdramen zu produzieren, träumte Claudia davon, einen Dramatiker / Komponisten zu finden, der ihr eine dramatische Tanzoper schreiben würde, bei der man vielleicht sogar ein kleines Jazzensemble einsetzen könnte. Und sie würde das Ganze dann im Luminous Animal Theatre aufführen — mit sich selbst in der Hauptrolle, versteht sich. Eine Weile glaubte sie schon, dieses Genie in Roy Shields von der Dritten Straße Ost entdeckt zu haben. Shields war in der ganzen Cedar-Bar/White-Horse/Stanley/Bowery- Kneipenszene nur als Dirty Roy bekannt, erstens, weil er in einem unglaublich vergammelten und dreckigen Apartment hauste, und zweitens wegen einiger Indiskretionen bezüglich der Läusefarmen, die er in seinen Achselhöhlen angelegt hatte. Die Viecher breiteten sich aus wie die Fliegen, besonders, wenn er auf die Idee kam, beispielsweise auf eine Jukebox zu klettern und dort seine Jitterbug-Technik zum Besten zu geben. Claudia klärte dieses Problem, sobald ihre Beziehung intimere Formen annahm, indem sie ihn unter den wüstesten Beschimpfungen ins Badezimmer verbannte. Später wuchs sich das dann allmählich zu einem pawlowschen Reflex bei ihm aus: Jedes Mal, wenn sie anfing zu schreien, verkroch er sich automatisch in die Dusche.
Im Grunde hatte er gar nichts gegen ihren Sauberkeitstick — ein Teil von Dirty Roy wünschte sich nämlich nichts sehnlicher, als sich eines Tages in Tuxedo-Roy zu verwandeln, obwohl er einem garantiert ins Gesicht gesprungen wäre, wenn man ihm das 1961 prophezeit hätte. Wir sind natürlich auch heute nicht sicher vor seiner Rache, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ihn seine hochfliegenden Pläne ein paar Jahre dazu zwangen, sich ständig in einer neuen Rolle zu präsentieren: Erst war er der Skandal-Roy, dann der Leise Roy, schließlich verwandelte er sich in Stromlinien-Roy und endete als Tuxedo-Roy. Als Tuxedo-Roy — und damit eindeutig als einer von denen, die er früher verabscheut hatte, ein Scheißliberaler nämlich, der ohne mit der Wimper zu zucken, mal hier, mal da einen Scheck für eine gute Sache lockermacht, — als Tuxedo-Roy also kapierte er schnellstens, wie man das macht, wenn man den Sommer in Richland, den Winter in Villaland und den Herbst auf der Shubert Alley verbringen will.
Aber vielleicht sind wir ein bisschen unfair mit unserem guten Roy Shields, denn zu Beginn unserer Story war er immerhin noch der bedeutendste Schreiber der gesamten Off-Broadway -Bühne. Und zum Komponieren hatte er wenigstens so viel Talent, dass er immer noch mit Leichtigkeit ein paar Melodien und Soli für das Jazzquintett hinkriegte, das bei einigen seiner Stücke mitmachte.
Roy Shields bildete sich ein, er sei der größte Stückeschreiber seit George Bernard Shaw. (Ein paar Jahre später, als die LSD-Ära ausbrach, schluckte er oben in Millbrook ein paar Trips und war hinterher fest davon überzeugt, dass er in Wirklichkeit sogar George Bernard Shaw höchstpersönlich war, da er sich aber mittlerweile zu einem cleveren Geschäftsmann gemausert hatte, behielt er diese erstaunliche reinkarnatische Erkenntnis für sich.) Im Grunde hielt er sich sogar für größer als Shaw. Mit Aischylos kam man ihm schon näher. War es etwa falsch zu behaupten, dass man nur bei Aischylos diese eigentlich vergleichbare Fähigkeit wiederentdeckt, nämlich eine Kombination aus Tanz, Musik, schönen Versen, Drama und sozialen Konflikten zu schaffen, die sich wie bei ihm unter immer härter werdenden Bedingungen entwickelt?
»Sie werden vor Reue beben! Aber nicht nur das! Sie werden in Tränen ausbrechen, wenn sie im Jahr 2200 n. Chr. meine Folianten entdecken«, erzählte er Claudia, »und sie werden es nicht fassen können, dass meine Generation mich so schäbig behandelt hat, dass meine Zeitgenossen ein so grausames Vergnügen daran gefunden haben, auf meinem Gesicht Flamenco zu tanzen.«
Shields hatte eine Schwäche für die gefährlichen Kicks der Rebellion. So geilte er sich mächtig daran auf, als er eines Tages las, wie Aischylos gewisse Geheimnisse aus den Mysterien von Eleusis in einigen seiner Stücke verarbeitet hatte, in der Iphigenie oder in den Bogenschützen zum Beispiel, und die Athener Bevölkerung deswegen seinen Tod gefordert hatte. Für Roy kamen als Äquivalent für die Mysterien selbstverständlich nur Staatsgeheimnisse infrage. Oh, wie sehnte er den Tag herbei, an dem ihm irgendwer ein paar saftige Vorabinformationen über irgendeinen faulen Regierungsdreh verschaffte! Zum Beispiel so was wie die CIA-Invasion auf Kuba! Er würde es augenblicklich auf die Bühne bringen und es der verblüfften westlichen Zivilisation noch vor Beginn des eigentlichen Coups vor die Füße knallen.
Wie Shaw verfasste auch Shields umfassende, und ich meine umfassende Einleitungen zu seinen Stücken, die am Ende fast genauso lang waren wie der eigentliche Text. Er veröffentlichte seine Werke in seinem eigenen Verlag, den Triumph Publications . Laut manchen Antiquariatskatalogen bringen sie heutzutage eine hübsche Summe und er ärgert sich vermutlich schwarz, damals so viele Kisten mit unverkauften Exemplaren einfach im Luminous Animal Theatre stehen gelassen zu haben. Zu jener Zeit war er wirklich ein lausiger Geschäftsmann — so bildete er sich beispielsweise ein, dass man Büchersendungen bloß eine Rechnung beilegen müsste, damit die Buchhändler auch pünktlich zahlten.
Speziell für Claudia hatte Roy ein langes satirisches Durcheinander verfasst, das er Newsreel ’84 nannte. Das Stück basiert auf George Orwells 1984 , Franz Kafkas Der Prozess und einer beachtlichen Reihe von Büchern, die vom Koreakrieg beeinflusst und alle im Verlauf der fünfziger Jahre erschienen waren. Zum ersten Mal prangerten in ihnen Schriftsteller Gehirnwäsche als Werkzeug der Politik an. Das Stück spielte am 4. April 1984 und bestand aus szenisch dargestellten Zeitungsartikeln, die an diesem Tag in der New York Times erschienen waren. Die Hauptattraktion an diesem Werk waren seine politischen Schauprozesse, die als albtraumartige Tanzrituale dargestellt wurden.
Читать дальше