Das ist alles Gerede, sagte Atticus. Es ist nicht typisch für Hunde, so viel zu reden. Wir werden Nahrung finden. Dann kümmern wir uns um eine Unterkunft.
Sie gingen jagen. Das heißt, einige machten sich auf die Suche nach dem, was sie als Futter kannten, und andere verfolgten die Tiere, die sie atavistisch mit Nahrung assoziierten. Sie waren äußerst erfolgreich. Ihr Instinkt führte sie unfehlbar zu den kleinen Tieren – vier Ratten, fünf Eichhörnchen –, die sie mit effizienter Geschicklichkeit töteten. Nach zwei Stunden, als die Morgensonne das Land beschien und den See bläulich grün färbte, hatten sie Ratten, Eichhörnchen, Hot Dog Brötchen, Brocken von Hamburgern, jede Menge Fritten, halbgegessene Äpfel und Konfekt angehäuft, aber alles war so mit Dreck bedeckt, dass man kaum noch etwas davon erkennen konnte. Die einzig wirkliche Enttäuschung war, dass sie es nicht geschafft hatten, auch nur eine Gans zu fangen. Die meisten Hunde mieden die kleinen Tiere und machten sich über die Essensabfälle her. Sie ließen die kopflosen, halbgekauten Reste der Ratten und Eichhörnchen in einer geraden Reihe auf dem Hügel neben dem Boulevard Club liegen.
In den Tagen, die folgten, gab es viele Anzeichen – subtil und eindeutig zugleich –, dass ihre neu erworbene Nachdenklichkeit zu einer kollektiven Veränderung geführt hatte. Zunächst blühte eine neue Sprache unter ihnen auf und änderte die Art und Weise, wie sie sich miteinander verständigten. Diese Veränderung zeigte sich besonders bei Prince. Er fand unaufhörlich Wörter in seinem Kopf, Wörter, die er mit den anderen teilte. Es war Prince, der sich das Wort für »Mensch« einfallen ließ (ungefähr: grrr- ahhi , der Knurrlaut, gefolgt von einem für Menschen typischen Geräusch). Dies war eine bedeutsame Fähigkeit, da die Hunde nun über die Primaten ohne Erwähnung ihrer Herrschaft sprechen konnten. Es war auch Prince, der ersann, was das erste Wortspiel der Hunde genannt werden könnte: das Wort für »bone« in der neuen Sprache (ungefähr: rrr- eye ) und das Wort für »stone« (ungefähr: rrr- eeye ) ähnelten sich sehr. Als Prince eines Abends gefragt wurde, was er aß, antwortete er »stone« und zeigte auf einen Knochen. Einige Hunde fanden das amüsant, aber auch zutreffend, denn die besagten Knochen waren schwer zu kauen.
Sie wurden auch geschickte Jäger und anspruchsvolle Abfallsucher, als ihnen ihr Territorium vertrauter wurde: Parkdale und High Park, von der Bloor Street bis zum See, von Windemere bis Strachan. Alle lernten schnell die Orte, wo sie zusammenkommen konnten, ohne allzu viel Aufmerksamkeit von Menschen oder Hunden auf sich zu ziehen. Außerdem lernten sie, angespornt durch die Beobachtungen des Sonnenlichts und der Schatten, die Prince anstellte, den Tag in nützliche Einheiten aufzuteilen. Das heißt, gemeinsam entdeckten sie die Zeit, die das quälende Bewusstsein ihres Vergehens milderte. (Der Tag, von Sonnenaufgang bis zum ersten Moment ihres Untergangs, wurde in acht ungleiche Einheiten geteilt, von denen jede einen Namen bekam. Die Nacht, wenn die Welt still zu werden begann, bis zum ersten Vogellärm, wurde in elf Einheiten geteilt. So bestand für die Hunde ihr Tag statt aus vierundzwanzig aus neunzehn Einheiten.)
Es war zum Teil diese neue Beziehung zu Zeit und Ort, die die Einrichtung ihres Verstecks beeinflusste. Atticus, praktisch und überzeugend (obwohl er der neuen Sprache misstraute) schlug vor, sich in ein Stück Wald im High Park zurückzuziehen, eine Lichtung unter einer Anhäufung immergrüner Bäume. Dorthin brachten sie Tennisbälle, Laufschuhe, Kleidung, Decken, Quietschspielzeug … alles, was sie finden oder stehlen konnten, um den Ort behaglicher zu machen. Sie hatten nicht vor, für immer in diesem Waldstück zu bleiben. Es sei, sagte Atticus, behelfsmäßig und vorläufig, ein Ort, um sich nach Einbruch der Dunkelheit zu treffen, aber bald hatten sie das Gefühl, als wäre dort ihr Zuhause. Es roch nach Kiefernharz, Hund und Urin.
Doch das wohl auffälligste Indiz, dass das »Primatendenken« nützlich war, zeigte sich in der Beziehung zwischen Bella und Athena. Die zwei waren völlig unterschiedlich, was Gewicht und Höhe betraf. Sie hatten das gleiche Alter – drei Jahre –, aber Athena brachte kaum vier Pfund auf die Waage, und ihre Beine waren kurz. Sie konnte nicht mithalten, wenn das Rudel losrannte. Bella war über einen Meter groß und wog etwa zweihundert Pfund. Sie lief nicht viel. Vielmehr bewegte sich Bella, auch wenn sie nicht die nachdenklichste war, majestätisch, mit Bedacht. Als sie sah, dass Athena nicht mit den anderen mithalten konnte, und sie sich daran erinnerte, wie ein vierjähriges Mädchen auf ihr geritten war, ließ Bella es zu, dass Athena auf ihrem Rücken saß.
Für Bella war das kein Problem. Sie kniete mit den Vorderbeinen nieder und wartete, bis der Pudel hinaufgeklettert war. Anfangs fiel Athena fast immer sofort wieder herunter, und es tat ihr weh. Doch sie lernte schnell. Nach dem dritten Tag, ihre Krallen benutzend und in Bellas Nacken beißend, um Halt zu finden, befand sich Athena so im Gleichgewicht, dass es schwer gewesen wäre, sie abzuschütteln. Sie bildeten einen seltsamen Anblick. Bella fühlte sich nach einigen Tagen sicher genug, um leicht trabend und arrythmisch zu rennen, wenn sie es wollte. Ihr Widerrist senkte und hob sich, während Athena wie ein Passagier auf dem Vorderdeck eines Schiffes fröhlich auf ihrem Platz ausharrte.
So aufregend das für die beiden auch war – sie fühlten sich bald wie Geschwister – sorgte das Arrangement für das Rudel Ärger. Athena und Bella verursachten ungewollte Aufmerksamkeit. Eines Tages, als die Hunde am Seeufer nach Essbarem suchten, bemerkte eine Gruppe männlicher Jugendlicher Athena auf dem Rücken von Bella. Zuerst amüsiert und dann feixend, begannen sie, den Hunden hinterherzulaufen. Nicht vertraut damit, wie fremd Menschen sind, konnten Bella und Athena den Übermut der Jugendlichen nicht von Aggression oder Abneigung unterscheiden. Die Jungen nahmen Steine und warfen sie auf die Hunde. Bella war nicht schnell, und sie konnte keine lange Strecken laufen, ohne eine Pause zu machen. Nach einer Weile wurde sie langsamer, und ein Stein traf Athena, die vor Schmerz jaulte und von Bellas Rücken fiel. Athenas Unglück und Schmerz rief bei den Menschen noch größere Belustigung hervor. Sie sammelten mehr Steine in der Absicht, den Hunden so viel Leid zuzufügen, wie sie konnten.
Auch wenn Bella von Natur aus ausgeglichen und nur schwer zu reizen war, war sie, als die jungen Männer näherkamen, um Athena besorgt und bereit zu töten. Als einzige List kam ihr in den Sinn, zuerst den größten der Angreifer auszuschalten, und so lief sie knurrend und unbeirrt auf die Gruppe zu. Sie stürzte sich auf den Anführer, bevor er oder einer der anderen reagieren oder wegrennen konnte. Ihre zweihundert Pfund auf ihn werfend, schnappte sie instinktiv nach seiner Kehle und hätte ihm den Hals durchgebissen, hätte er nicht im letzten Moment seinen Arm gehoben. So biss sie tief in seine rechte Hand bis auf den Knochen. Blut spritzte, als er unter ihr aufschrie. Die anderen, obwohl sie mit Steinen bewaffnet waren, sahen wie gelähmt zu. Sie standen bewegungslos und hörten ihren Freund um Hilfe schreien. Ihre Angst gab Bella einen Vorsprung. Sie ließ von dem Jungen ab und rannte direkt zu dem, der ihr am nächsten stand. Schreiend lief er davon und überließ seine Freunde ihrem Schicksal.
Atticus und Majnoun, die in der Nähe nach Nahrung gesucht hatten und durch den Tumult herbeigelockt worden waren, knurrten die Menschen an, rannten hinter ihnen her und sorgten dafür, dass sie nicht zurückkehrten. Nichts aber lag den Menschen ferner. Mit anderen Worten: Ihre Niederlage war schnell und gründlich. Die sechs oder sieben Jungen, keiner von ihnen älter als vierzehn, waren erniedrigt und traumatisiert. Aber als die Hunde sahen, dass Athena nicht schlimm verletzt war – sie hatte geblutet, und über ihrem Auge klebte ein Büschel nasses Fell –, sagte Majnoun:
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