Wer aber nicht berufsmäßig in der Nachbarschaft wohnt, muss mehr sehen und mehr ertragen. In der U-Bahn gibt sich die Kaskade der Schnorrer die Klinke in die Hand. »Ich heiße Horst und bin HIV-positiv«, mümmelt einer, den Blick gesenkt; kaum hat er seinen Vers aufgesagt und seine Münzen eingesammelt, betritt ein neuer Kunde den Waggon: »Hallo! Ich bin der Klaus und obdachlos!« geht er seinen Job auf die forsche Tour an; groß ist die Komik der Situation und entsprechend das Gelächter, jener »Klaus« aber hat seinen Vorgänger nicht mitgekriegt und reagiert sauer: »Hey! Das ist nicht lustig! Aber ich hasse es zu betteln, und deshalb singe ich euch ein Lied. Ich habe es in meiner Muttersprache geschrieben. My mother was a gipsy, my father was a gigolo «, beginnt er jetzt mit starkem deutschen Akzent und in schneidendem Diskant zu schreien, » now she’s a famous doctor « geht es weiter, und an der nächsten Station wird er von einem Puppenspieler abgelöst. Schön wäre es, wenn all diese Kameraden gegen viel Geld im Cabaret Wintergarten aufträten, wo André Heller und Bernhard Paul mit der von ihnen ständig beschworenen »Phantasie, Magie und Poesie« das machen, was Hitler und Stalin mit Polen gemacht haben.
Nach einer kleineren Reise endlich am Flughafen Tegel angekommen, kann man sich amüsieren, indem man ankommende Inlandsmaschinen abpasst und die Passagiere betrachtet: identische Männer mit identischen gestreiften Hemden, identischen dunklen Anzügen, identischen Aktenkoffern und identischem Gesichtsausdruck; ob sie alle aus ein und demselben Reagenzglas stammen? Häufig werden diese Irrläufer der Evolution von Frauen abgeholt, die ihrerseits wieder einen identischen Eindruck machen. Oft schon habe ich mich gewundert, wie diese Menschen einander überhaupt erkennen, wie also immer das jeweils zusammengehörende Paar auch zusammenfindet. Selbst langes Grübeln blieb fruchtlos, bis die Erkenntnis blitzartig kam: Nein! Sie erkennen und finden sich gar nicht. Es nimmt einfach jede Frau irgendeinen dieser Männer mit nach Hause, ein Unterschied ist weder für sie noch für ihn feststellbar, die Verständigung klappt problemlos, die Codes sind identisch, die Bedürfnisse auch, und auch Geschlechtsverkehr, Wochenende und, Angestelltenvokabel Nr. 1, Jahresurlaub laufen reibungslos ab, egal, wer am Flughafen wen erwischt hat, funktioniert garantiert und überall, in Berlin, Frankfurt, München oder Düsseldorf.
In Düsseldorf, wo ich 1987 drei Monate lang in einer sog. Agentur für Kommunikation , einer Werbeagentur also, als Juniortexter arbeitete, betraten einmal drei schwere Herren von der Firma Frenzel das Konferenzzimmer und heckten gemeinsam mit uns Werbestrategen eine Kampagne aus. Einer der drei Sauerkonservenmogule brachte die Sache auf den Punkt: »Das ist doch unsere Frage: Wie ist die Gurke? Ist sie fein? Ist sie herb?«
Wie ist die Gurke? Ich habe nie aufgehört, mich das zu fragen.
1992
Klartext von Klarname Meyer
Till Meyer war Stasi-Mitarbeiter Na und?
WIE BITTER FÜR DIE TAZ-KOLLEGEN: Da hat man die Stasi im Haus gehabt, und die zeigte sich desinteressiert. Ließ einen quasi rechts liegen, schnüffelte, spitzelte und denunzierte nicht und forschte nichts aus, weil – jeder (Ex-) taz ler weiß das – es in der taz nichts Unerforschtes gibt. Durch Till Meyers Selbstenttarnung via Spiegel -TV jetzt die eigene Bedeutungs- und Harmlosigkeit noch mal aufs Brot gelegt zu bekommen, tut weh, und entsprechend groß ist das Geschrei. Gewohnt betroffen wird von der »Natter am Busen«, von Undankbarkeit und Verrat geweint, wo man doch selbst so gütig war, dem Ex-Terroristen »eine Resozialisierungschance« einzuräumen - ach ja, Undank ist der Welten Lohn, buhuhu.
Ärger noch aber als die bloße Tatsache der Stasi-Mitarbeit kommt die chronisch Tiefbestürzten Till Meyers Haltung an: Einfach und klar, ohne sich zu winden, ohne Selbstmitleid steht er da: »Non, je ne regrette rien!« Warum auch: Till Meyer ist kein Spitzel und kein Denunziant wie zum Beispiel Anderson, der Dreigroschendichter, oder Wollenberger, der mit der Wanze im Schwanze in seine Frau hineinhorchte. Meyers Weigerung, jetzt auf dem Bauch liegend um Verständnis und Gnade zu winseln, wird ihm als »Stalinismus«, »Beton im Kopf« und so weiter ausgelegt von Leuten, die jahrelang ihre politischen Jugendsünden mit verbohrtem Hass auf die DDR abgearbeitet haben, um doch noch im Schoße beziehungsweise Arsche der Gesellschaft anzukommen – »je suis arrivé, hehe!«
Menschen ohne Würde und ohne Stolz präsentieren sich derzeit täglich, zeigen mit dem erigierten Finger auf sich selbst und ihre ehemaligen Mitstreiter, behaupten, von nichts gewusst zu haben oder zur Stasi-Mitarbeit gezwungen worden zu sein, ein halbes Volks betreibt kollektiv die Vernichtung der eigenen (politischen) Biographie und macht sich, als Folge dieses erbärmlichen Vorgangs, zur blinden Manövriermasse: gebrochene Figuren, mit denen man machen kann, was man will.
Auf den Stühlen der Päpstlichkeit nehmen schlechte Schriftsteller wie Jürgen Fuchs die Beichten ab; Bärbel Bohley, die so malen kann wie Stephan Krawczyk singen, betreibt die Talkshow als Existenzform, und Wolf Biermann, der politisch in der Nähe jeder Fernsehkamera steht, macht für den Spiegel Klamauk im Hause Gauck und ernennt sich dreimal täglich zum Heine von heute.
In dem Schleim aus Christlichkeit, Schuld und Sühne und medialer Wichtigtuerei wirkt Till Meyers klares Bekenntnis zur Stasi befreiend – es hätte für meinen Geschmack ruhig noch eine Nummer selbstbewusster ausfallen können.
1992
Komm, Erster Mai!
Jährliche Rede zum Tag der Arbeit
»HERAUS ZUM 1. MAI!« heißt eine alte Parole, die der Anarchist Fritz Teufel vor einigen Jahren aus der Gefängniszelle heraus so kommentierte: »Mir ist auch jeder andere Termin recht.« Dem kann ich nur zustimmen: Das Jahr hat 365 Tage, da muss nicht alles an diesem einen wegerledigt werden. Man kann es ruhig angehen lassen am Ersten Mai; es ist ein schöner Tag zum Schlachtenbummeln. Leicht aufgepeitscht von sog. »Frühlingsgefühlen« – die Vögel, die Bienen und alles, jaja – stromert und strolcht man durch die Straßen und setzt sich den Vibrationen seiner Mitmenschen aus, wird mit den Augen vernascht und vernascht zurück, in der Luft knistert eine allgemeine, sehr freundliche Geilheit, man pimpert mit Blicken und in Gedanken, aber auch in Worten und Werken, nimmt seine Süße, einmal her und einmal hin, und spielt ein schönes Spiel. Es heißt »Zusammenlegung jetzt!« Oh ja, so soll das sein, und kann man den Kampftag der Arbeiterklasse angemessener ehren als so?
Natürlich kann man sich auch ernsthafter amüsieren gehen und z.B. bei einer Demonstration des DGB mitmarschieren. Denn so unsympathisch einem Gewerkschaftsfunktionäre, die Phänotypen von Korruptheit und geistiger Fettarschigkeit, auch sein mögen: Gewerkschaften sind, salopp gesagt, ganz ganz prima und können gar nicht stark genug sein. Denn ginge es nach denen, die idiotischer- und perfiderweise »Arbeitgeber« genannt werden – obwohl sie ja Arbeitnehmer sind, denn sie nehmen die Arbeit von denen, die ihre Arbeit und Arbeitskraft geben, die also die wahren Arbeitgeber sind, und sie bezahlen sie immer zu schlecht –, ginge es also nach der Nase der »Arbeitgeber« sich nennenden Arbeit-Nehmer, die Lohnabhängigen würden in Positionen von vor ca. 100 Jahren zurückgeboxt und hätten noch dankbar dafür zu sein. Denn das ist ja der Zweck, wenn man die, die ihre Arbeit geben, »Arbeitnehmer« nennt: ihnen das Bewusstsein, den Stolz, kurz: das Rückgrat zu brechen und sie auch noch zu verhöhnen. »Säg nicht am Ast, auf dem wir alle sitzen!« hebt die auf anderer Leute Knochen reich gewordene Bande noch den Moralfinger – als ob »wir alle« eine Fabrik besäßen (oder auch bloß eine besitzen wollten). Nein, den »sozialen Unfrieden« muss man nicht herbeireden, er ist da, er herrscht.
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