Bigelow-Sensor/Virilioptricon
Früher als erwartet kam es im ersten Jahrtausendsjahrzehnt infolge einer immensen Ausweitung der transhumanistischen Medizin (vgl. www.transhumanismus.de) zu einer cyborgartigen Erweiterung des menschlichen Körpers durch technische Implantate. Der Bigelow-Sensor stellt, auf Laienniveau heruntergebrochen, eine Art Kontaktlinse dar, die problemlos im menschlichen Auge getragen werden kann und so die wahrgenommenen Bilder über einen Mikrochip von Nanogröße an ein Virilioptricon als Empfangsgerät sendet. Dieses wiederum ist in der Lage, aus den erhaltenen Informationen ein Fernsehbild zusammenzusetzen, so dass genau das, was der Träger des Sensors sieht, auch von zahllosen anderen Menschen gesehen werden kann. Der Grundstein für diese Technologie, die auch Blinden zunehmend das Sehen ermöglicht, wurde noch im alten Jahrtausend von William Dobelle vom Presbyterian Medical Center gelegt.
»Okaaayyy.« Hiob rieb sich angespannt die Hände. »Ich darf dich noch einmal daran erinnern, dass du besser nicht versuchen solltest, die Dinger eigenhändig zu entfernen. Das wäre nicht nur gegen die Spielregeln, sondern würde ohne die Hilfe eines Profis auch unweigerlich danebengehen. Schlimmstenfalls könntest du dir einen schweren Augenschaden zuziehen. Ja, ansonsten wäre damit die technische Sache klar.« Er griff auf einen Tisch hinter sich und nahm ein dort liegendes T-Shirt auf. »Francine, wenn ich Sie dann bitten dürfte …?«
Francine spürte, wie der Kloß in ihrem Hals immer dicker wurde. Die ganze Zeit über hatte sie sich durch die technische Seite der Angelegenheit ablenken können. Das kleine Studio, in dem sie sich mit Hiob und dem jungen Techniker befand, war vollgestellt mit Gerätschaften aus dem Bereich der Neuen Medien: diversen Webcams, Computern, Übertragungsmodulen, GHD-Receivern und vieles andere. Darauf und auf die Anpassung der Kontaktlinsen wie der Ohrmikrophone hatte sie ihre Aufmerksamkeit gerichtet. Nun aber war unweigerlich der Moment gekommen, wo es zur Sache gehen würde.
»Jetzt gleich?« fragte sie, und trotz aller zur Schau gestellten kühlen Selbstbeherrschung konnte sie ein Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Hier?«
»Tja, Sie kennen ja unseren Sendeplan. Die Show beginnt in wenigen Minuten. Und bei dem, was Sie sich für die nächsten Tage vorgenommen haben, wäre das jetzt wohl der falsche Zeitpunkt, Keuschheit zu entwickeln.«
Francine starrte einen Augenblick in die Runde, dann nickte sie. Es war ihr klar, dass keiner der Männer im Raum seine Augen von ihr ließ, als sie sich mit flatternden Fingern die Bluse aufknöpfte, dann über die Schultern gleiten ließ.Ihr BH folgte. Sie stieg erst aus dem einen ihrer magentafarbenen Pumps, dann aus dem anderen, streifte schließlich ihren Rock die Beine herab. Sie hielt einen letzten Moment inne, dann fügte sie sich endgültig und schlüpfte auch aus ihrem Slip.
Hiob ließ sich vielleicht ein paar Sekunden zu lange Zeit, bevor er ihr das zusammengefaltete Shirt reichte. Francine riss es ihm aus der Hand, schlug es auf und streifte es sich mit einer entschlossenen Bewegung über den Kopf. Es reichte ihr höchstens zu einem Viertel über die Oberschenkel, erkannte sie, als sie ihre Reflektion in einem der Monitore erblickte. Gerade so, dass man nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, dass sie darunter splitternackt war.Nur vorbeugen sollte sie sich damit besser nicht. Ihr Atem war zu einer starren Eisenstange in ihrem Brustkorb geworden, und ihr Blut hämmerte ihr in den Ohren.
»Schick«, kommentierte Hiob trocken. »Mal schauen, vielleicht löst unsere Show eine neue Modewelle aus. Wäre ja auch nicht das erste Mal.« Er lachte.
Francine musste sich beherrschen, ihre plötzlich schweißnassen Hände nicht an ihrem Shirt abzuwischen.
»Okay, dann komm mit in die Garage«, forderte Hiob sie auf und war bereits unterwegs, um den Raum zu verlassen.
»I-in die Garage?« Francine folgte ihm zur Tür.
»Ja. Die Spielregeln unserer Sendung sehen vor, dass die Fuchsjagd in der Fußgängerzone beginnt, erinnerst du dich?«
Er führte sie hinüber zu einem dunkelgrauen Sedan und ließ sie vor sich in den Fond steigen. Mit sichtlich errötetem Gesicht nahm Francine neben ihm auf der Rückbank Platz. Sie spürte das Polster unter ihrer Haut. Einer der Techniker warf sich hinter das Lenkrad. Mit einer Fernbedienung ließ er das Garagentor in die Höhe gleiten. Die Fahrt begann.
»Und? Wie fühlst du dich?« wollte Hiob von ihr wissen. Er sah sehr glücklich aus.
»Ich weiß nicht, was Sie hören wollen«, erwiderte Francine etwas patzig. »Aufgeregt natürlich.«
Hiob lachte.
Mit einer beängstigenden Geschwindigkeit glitten draußen die Straßen vorbei. In diesen Sekunden konnte Francine nichts anderes hören als das Hämmern ihres Herzens.
Wie sie es geschafft hatten, die Strecke in nur wenigen Atemzügen zurückzulegen, würde sie vielleicht nie verstehen. Aber von einem Lidschlag auf den anderen waren sie angekommen. Hiob beugte sich über sie, schob sich dabei allzu dicht an ihrem Körper vorbei, und öffnete auf ihrer Seite den Wagenschlag.
»Also dann«, sagte er.
Francine starrte hinaus in die fremde, feindliche Welt, die sie so schutzlos betreten sollte. Fast in Zeitlupe glitt sie von der Rückbank herab. Auf dem Polster blieb eine feuchte Stelle zurück. Ihr linker Fuß ertastete den Asphalt.
Hiob hatte sich in der Bank zurückgelehnt und sah ihr geduldig zu.
Endlich stand Francine draußen auf dem Trottoir. Der Wind zerzauste ihr Haar.
»Also dann«, sagte Hiob noch einmal. »Wollen wir für die Fuchsjagd ins Horn stoßen. Von diesem Moment an bist du nicht länger Francine Descartes. Ab sofort bist du Fox.«
Er spitzte die Lippen, um ihr einen ironischen Abschiedskuss zuzuwerfen, und zog dann die Tür ins Schloss. *wump!*
Der Wagen brauste davon. *vroommm*
Fox blieb zurück.
Das Spiel hatte begonnen.
Jasmin hatte das Radio so laut gestellt, dass sie die einschmeichelnden Klänge von Natalie Cole noch unter dem Strahl der Dusche hören konnte *prassel*. Sie genoss es, wie das wohltemperierte Wasser ihren nackten Körperherabrann, verteilte das Duschgel auf ihrer Haut und sang leise mit. Sie war gerade dabei, sich ihre schlanken, langen Beineeinzuseifen, als das Schrillen der Türglocke Wasserstrahl und Musik übertönte.
Jasmin runzelte die Stirn. Um diese Uhrzeit hatte sie eigentlich mit keinem Besuch gerechnet, und sie konnte sich auch nicht denken, wer das sein würde. Ihr Verlobter Dirk war noch bis Ende des Monats auf Geschäftsreise in München, die meisten anderen Bekannten hätten sich vorher angemeldet.
Es schrillte erneut. *rrrrrrrriiinnngg* Wer immer es war, er ließ seinen Finger ziemlich lange auf dem Klingelknopf. Natürlich: Er konnte die Musik auch draußen hören und war so sicher, dass sie zu Hause war.
Leise vor sich hinschimpfend, drehte Jasmin die Brause ab und trat aus der Kabine. Sie griff nach einem Handtuch, um sich hektisch wenigstens oberflächlich trockenzurubbeln.
Das Schrillen der Klingel wurde immer fordernder.
»Ich komme ja!« rief Jasmin und schlüpfte in ihren Bademantel, noch während sie durch den Flur eilte. Nasse Haarsträhnen hingen ihr im Gesicht.
Sie öffnete die Tür ihrer Wohnung. Im Treppenhaus stand Dirk.
»Hoppla!« rief sie aus. Freudige Überraschung trat auf ihr Gesicht. »Wo kommst du denn schon her? Ich dachte, du bist …«
Dann sah sie den entschlossenen Ausdruck in seinem Blick und die auf sie gerichtete Pistole in seiner Hand. Ihre Überraschung verwandelte sich in Entsetzen.
»Dirk?«
Er stieß sie heftig gegen die Brust, so dass sie zurück in die Wohnung taumelte. Ihre noch nassen Füße machten es ihr ohnehin nicht leicht, nach diesem Stoß auf den Beinen zu bleiben. Der Bademantel klaffte auf.
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