Hatte die Bibel vielleicht Recht? Es war wie ein Fluch, und das Ganze wie eine Wiederholung der Geschichte der Menschheit, wenn ich an Adam und Eva dachte. Im Lustgarten, unter den schönen Pflanzen und Tieren des Paradieses, wo sie sich nach einem erfüllten Tag ausruhten, fühlte das erste Menschenpaar, was Glück ist. Aber ihr Irrglaube an Liebe und die Härte der Urstrafe verringerten dieses Glück, und die Wehen der Urfrau brachten Augenblicke der Trauer. Und die guten alten Zeiten waren vorbei.
Abe bedeutet das Böse, böse wie nur das Leben sein kann, wenn man ein Leben lang ein Bein nachziehen muss. Meine Urgroßmutter Abiaye Abe trug einen körperlichen Schaden ihr ganzes Leben lang, hinkte mit dem rechten Bein. Es war keine schwere Behinderung, aber auch keine leichte. Es war ein Schicksalsschlag, mit dem sie seit ihrer Geburt haderte und den sie nicht hinnehmen wollte.
Nane Abe, das erzählt jeder, der sie gekannt hat, war ein liebevolles Kind, aber sie mochte die Kinder von Meyozo nicht, weil sie ihr die Kindheit zur Hölle machten. Sie riefen sie Mon Evou, kleine Hexe, sagten ihr ins Gesicht, was man im Dorf glaubte, dass sie nämlich nur am hellen Tag behindert war, aber nachts schneller als ein Hase lief. Nane Abe wollte sich wehren, schlug immer zu, wenn sie außer sich war, schickte diese Kinder, die ihr wie Satansbrut vorkamen, zum Teufel. Manchmal versuchte sie, hinter ihnen herzulaufen, bis sie hinfiel. Dann blieb sie am Boden liegen, aber nicht, weil sie nicht in der Lage war, wieder aufzustehen, sondern weil sie die Leute im Dorf auf das Vorgefallene aufmerksam machen wollte. Der erste, der sie liegend fand, hob sie vom Boden auf und brachte sie zu ihrem Vater. Vamba Essono Medjo sah seine Tochter immer voller Mitleid an. »Wie kann ich dir nur helfen? Wie kann ich dich vor diesen kleinen Teufeln schützen? Abe, am besten bleibst du zuhause. Ich sehe keine andere Lösung. Vielleicht hätte deine Mutter eine bessere gewusst. Leider bin ich nur ein Mann, der nicht viel über die Erziehung eines Mädchens weiß.«
Nane Abe war ein schweigsames Mädchen, widersprach ihrem Vater nie, selbt wenn er im Unrecht war. Sie blieb zuhause. Tage und Nächte vergingen. Wieder ein Tag, wieder eine Nacht. Nane Abe ließ sich nicht sehen. Erst nach Wochen wagte sie wieder hinauszugehen und längere Strecken über die einzige Dorfstraße zu gehen, um Nachbarn zu besuchen, die sich über ihr Verhalten beschwerten, über ihren »Rückzug aus dem Gemeinschaftsleben«, wie sie das nannten. Welch ein großes Wort! Gemeinschaftsleben. Dieses Wort bedeutet mehr als sich nur besuchen: Es verpflichtet die Menschen, Behinderte zu versorgen, zu pflegen, zu beschützen, zu unterhalten. Jedoch, in Meyozo fühlte sich nur ein Mann dazu verpflichtet: Vamba Essono Medjo, Nane Abes Vater. Die anderen redeten nur vom Gemeinschaftsleben. Oooh! Sie hatten keine Ahnung davon. Hätten sie etwas darüber gewusst, dann hätten sie dafür gesorgt, dass nicht Nane Abe, sondern sie selbst sich regelmäßig auf den Weg machten, um Nane Abe zu besuchen.
Aber sie blieben in ihren Häusern, aus Angst vor Nane Abe, die sie für eine kleine Hexe hielten. Nane Abe besuchte sie, bis sie die Kinder wieder traf. Überrascht hörte sie einige »Entschuldigung, Verzeihung« sagen, auf Anweisung ihrer Eltern, denn sie blieben ungezogen. »Mon Evou, Mon Evou«, riefen sie wieder, bis Nane Abe das Dorf verließ. Sie wollte die Kinder von Meyozo, ihrem Geburtsort, nicht mehr sehen, und sie sah sie nie wieder, denn mit Unterstützung ihres entsetzten Vaters zog sie zu einer Verwandten nach Mbaangok und kehrte nie wieder heim.
Dort lernte sie Vamba Obeme kennen. Mit ihm, dem Sohn von Afane, wollte sie ihren Schicksalsschlag bewältigen, sie wollte beweisen, dass sie kein außergewöhnlicher Mensch war, auch wenn sie ein Bein nachziehen musste, wollte beweisen, dass sie ein normales Leben führen konnte. Sie träumte, schwärmte vom Eheglück. Sie sehnte sich so danach! Und sie fand es! Sie verliebte sich in Vamba Obeme, billigte später freudig seine Heiratsabsicht und ließ sich mit ihm trauen.
Ein Traummann! Auch einer von den wenigen in jener Zeit! Er verwöhnte sie Tag und Nacht, erleichterte ihr das Leben, übernahm mehr als die Hälfte der ursprünglichen Frauenarbeiten, holte täglich Wasser von der Quelle, putzte, kochte an manchen Tagen, machte die schwersten Feldarbeiten und trug jeden Abend Nane Abes Hotte vom Feld nach Hause, was üblicherweise kein Mann aus Mbaangok tat. Durch dieses große Eheglück gewann Nane Abes Leben einen neuen Sinn.
Aber ihr Eheglück war nur von kurzer Dauer. Nane Abe wurde schwanger, hatte kaum den ersten Hoffnungsschimmer des Mutterglückes gesehen, da lag sie gelähmt, Zwillinge im Bauch einer so zarten Frau, das konnte nicht gut ausgehen. Sie musste liegen, wie ihre Mutter, bis sie starb, wie ihre Mutter. Die schwierige Schwangerschaft Nane Nkolo Medjos endete mit einer schweren Geburt im Koma. Auch Unannehmlichkeiten begleiteten Nane Abes Schwangerschaft bis zum letzten Atemzug.
Das erste Kind starb im Mutterleib. Es war zwei Uhr morgens. Nane Abe lag in einem Geburtsbett im Krankenhaus der Mission von Ebolowo’o. Man hörte Neugeborene in dem Kreißsaal weinen, während ein ungeborenes Kind im Bauch seiner Mutter erstickte. Entsetzt, aber nicht überrascht, sah die Geburtshelferin ein lebloses Baby kommen, ein Mädchen. Das zweite Kind lebte noch, das wusste die Geburtshelferin. Aber Vamba Obeme wusste es nicht, machte sich wieder Sorgen, rechnete schon mit einem zweiten Toten, als das Kind sich meldete. Die Krankenschwestern hatten schon das tote Baby gewickelt und es Vamba in einem Korb überreicht, als sie den Kopf des zweiten Kindes sahen. Schnell kehrten sie zu dem Kommenden zurück, den sie ohne große Mühe herausholten. Mit lautem Geschrei begrüßte Opa Otam seine neue Welt. Aber neben dem schreienden Kind lag eine tote Frau. Nach einer Doppelgeburt erlag meine Urgroßmutter ihren Schmerzen. Meine Mutter erzählte, dass Nane Abe mit dreißig verstarb.
»Gott, musste das sein?«, fragte ich.
»Was?«, forschte meine Mutter.
»Musste sie schwanger werden?«
»Ada, jede Frau wünscht sich ein Kind, weil Kinder so niedlich sind, kleine unschuldige Wesen. Kinder sind ein Geschenk Gottes! Auch Abiaye Abe wollte ein Kind, daran gibt es keinen Zweifel, sonst hätte sie Obeme nicht geheiratet.«
»Ich meine, Vamba Obeme liebte sie, er wusste aber auch, dass sie nicht viel Kraft hatte.«
»Das stimmt, aber – das wirst du später verstehen – die Liebe macht blind. Obeme liebte Abiaye Abe so sehr, dass er sich Kinder von ihr wünschte, um den Yemezem zu zeigen, dass auch er ein Mann ist, ich meine, dass auch er zeugungsfähig ist. Er konnte das spöttische Lachen seiner Onkel und Vetter nicht mehr aushalten. Die Yemezem, seine eigenen Verwandten, lachten ihn aus, weil er nur eine Frau hatte, eine behinderte noch dazu, die – das glaubten sie am Anfang – kein Kind gebären konnte. Schlimmer war sein Vater Afane, ein Mann mit sechs Frauen und zweiundzwanzig Kindern, der immer darüber jammerte, dass sein erster Sohn Obeme kein Mann wäre.«
»Aber Mama, eine Sache verstehe ich immer noch nicht: Wie konnte Vamba Obeme Nane Abe lieben?«
»Kind, wieso nicht? Dein Vamba war nicht der einzige, der Abiaye Abe liebte. Auch diese Yemezem, die Obeme auslachten, liebten sie, selbst wenn sie es heute nicht zugeben. Abiaye Abe war sehr hübsch. Das kann man noch aus ihren alten Fotos sehen. Obeme hat noch einige. Außerdem, das muss ich dir noch sagen, Abiaye Abe war nicht schwer behindert. Sie hatte eine leichte Behinderung, die bei einer so hübschen Frau wie sie gar nicht auffiel. Ich glaube, sie hätte auch ohne tödliche Folge ein Kind gebären können, aber Zwillinge waren ihr zu viel … Wie gesagt, Obeme liebte sie und wünschte sich Kinder von ihr. Schwierigkeiten bei der Geburt hat er leider nicht geahnt, oder er hat sie geahnt und mit einem Wunder gerechnet.«
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