Für einen großzügigen Publikationszuschuss danken wir dem Louis- und Eugène Michaudfonds des Departements für Christkatholische Theologie der Universität Bern. Dem Theologischen Verlag Zürich, insbesondere der Verlagsleiterin Lisa Briner Schönberger und ihrer überraschend verstorbenen Vorgängerin Marianne Stauffacher, sind wir erkenntlich für die gute Zusammenarbeit.
Luca Baschera, Angela Berlis und Ralph Kunz
|9|
Der Gottesdienst der Kirche im Widerspiel von formativem und expressivem liturgischem Handeln
Luca Baschera, Ralph Kunz
Gottesdienst der Kirche ist eigentlich ein Pleonasmus. Gibt es einen nicht-kirchlichen christlichen Gottesdienst? Welche andere Gemeinschaft soll die Liturgie der Christinnen und Christen feiern? Wo Gottesdienst gefeiert wird, ereignet sich Kirche.1 Das ist sicher unbestritten und doch nicht selbstverständlich. Denn die Rede vom Gottesdienst der Kirche setzt voraus, dass die Kirche an ihrer Liturgie wiedererkannt wird, was wiederum eine Einheit bzw. Wiedererkennbarkeit der Liturgie bedingt. Von der Einheit kommt man zur Apostolizität, Heiligkeit und Katholizität der Kirche und von daher zur Frage, wie es in der zerstrittenen und gespaltenen Christenheit um das Bewusstsein für die Una Sancta steht.
Es steckt also viel in der Klammer «Gottesdienst der Kirche». Das Bewusstsein für diese – im eigentlichen Sinne des Wortes – bedeutungsvolle Dimension des Gottesdienstes ist aber nicht in allen Konfessionen im selben Maße ausgeprägt. Im europäischen und insbesondere im deutschschweizerischen Kontext neigen vor allem die Reformierten dazu, stärker den Gottesdienst der Gemeinde zu betonen. In der Deutschschweiz gab und gibt es bis heute keine verbindliche Agende. Das hatte zur Folge, dass sich auf der Basis von minimalen Vorgaben, die in der Kirchenordnung, im Kirchenbuch oder im Gesangbuch festgehalten werden, lokale Gottesdiensttraditionen entwickeln konnten. Die historischen Hintergründe für diese Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Gottesdienstkultur sind hinlänglich bekannt und andernorts beschrieben.2 Sie müssen hier nicht weiter erläutert werden.
Wir wollen uns in unserem Beitrag nicht primär damit beschäftigen, sondern einen anderen Weg beschreiten. Im Fokus unseres Interesses ist eine bestimmte fundamentalliturgische Konstellation, die hinter der Entscheidung gegen ein agendarisches Gottesdienstkonzept steht, wenn sie auch weder historisch noch systematisch darauf reduziert werden kann. Uns interessiert das Verhältnis von |10| Expression und Formation, also die Frage, wie der Zusammenhang von Darstellung der Liturgie durch die Gemeinschaft der Feiernden und Prägung der am Gottesdienst Beteiligten durch die Liturgie bestimmt werden muss. Der Blick geht dabei über den hiesigen deutschschweizerischen Kontext hinaus in die USA, wo seit Jahren lebhaft über liturgische Anthropologie debattiert wird. Wer sich auf diese Debatten einlässt, wird erstaunt feststellen, dass auch reformierte Theologinnen und Theologen dezidiert für ein formatives Verständnis der Liturgie votieren und sich von einem expressiven Verständnis abwenden. Diese Präferenz ist deshalb auffällig, weil sie in einer gewissen Spannung zum Prinzip der liturgischen «Gestaltungsfreiheit» steht und nach einer stärkeren Beachtung der Form ruft. Welche Konsequenzen hat diese Gewichtsverschiebung auf die Wahrnehmung des kirchlichen Gottesdienstes? Welches Menschenbild und welches Verständnis von Ritus stehen hinter der Präferenz des formativen Handelns? Inwiefern kann eine solche Sicht der ständigen Reform des reformierten Gottesdienstes im Kontext der Deutschschweiz Impulse verleihen? Und welche Folgen hätte eine reformierte Liturgie der Kirche für den Gemeindegottesdienst vor Ort?
Wir finden, es lohnt sich, die Debatte jenseits des Atlantiks zur Kenntnis zu nehmen, den aufgeworfenen Fragen nachzugehen und die angezeigte Dialektik zu vertiefen. Dies kann im Rahmen eines solchen Beitrags nur skizzenhaft geschehen.3 Wir wollen einen Akzent setzen und zur Auseinandersetzung einladen, indem wir einen Verdacht formulieren. Wir sind der Meinung, dass sich die liturgische Diskussion der Evangelischen in eine Sackgasse manövriert, wenn sie einem expressiven Liturgieverständnis folgt, das u. a. auf Schleiermacher rekurriert. Mit diesem Verdacht geht es uns weniger darum, eine Schleiermacherdebatte vom Zaun zu reißen, als vielmehr darum, die unaufgebbare Dialektik von menschlichem und göttlichem Wirken im gottesdienstlichen Handeln kritisch zu diskutieren. Diese Dialektik halten wir für grundlegend. Wird sie aufgelöst, gerät das theologische Verständnis des Gottesdienstes in eine Schieflage. Wir behaupten, dass liturgisches Handeln – im doppelten Sinne des Wortes als Handeln der Liturgie und Handlung an der Liturgie – von einem pneumatisch-formativen Standpunkt her besser verstanden werden kann. Fasst man liturgisches Handeln hingegen grundsätzlich expressiv auf, so verunmöglicht dies, dass Liturgie als Ineinander von gottlichem und menschlichem Handeln gedacht werden kann.
Das will begründet sein. In einem ersten Schritt referieren wir, ausgehend von Schleiermachers Unterscheidung des darstellenden und wirksamen Handelns und der Rezeption in der evangelischen Liturgik, den expressiven Ansatz (1), um in einem zweiten Schritt den formativen Ansatz im Anschluss an James K. A. Smith eingehender vorzustellen (2). In der kurzen Konklusion zeigen wir auf, wie ein |11| Liturgieverständnis auf der Grundlage der Formation zur Reform des kirchlichen Gottesdienstes anleiten und sie begleiten kann (3).
1. Das expressive Gottesdienstverständnis: Liturgische Anthropologie nach Schleiermacher
1.1 Formel und Definition
Geht es um den Gottesdienst, zitieren evangelische Liturgiker oft und gern die sogenannte «Torgauer Formel»4. Im Gottesdienst geschieht nach Martin Luther (WA 49, 588) nichts anderes, «als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang». Viele, die mit Luther beginnen, setzen mit Schleiermachers Unterscheidung des herstellenden und darstellenden Handelns fort.5 Die beiden Definitionen stehen freilich in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Während Luther das gottesdienstliche Geschehen als Rede von Gott zu Gott beschreibt, zielt Schleiermachers Konzeption auf die zwischenmenschlich-rituelle Kommunikation. Die Spannung, die zwischen den beiden Ansätzen zutage tritt, lässt wiederum nach Formeln fragen, die sowohl den theologischen wie den humanwissenschaftlichen Aspekt berücksichtigen. Eine Definition von Peter Cornehl, die häufig von Praktischen Theologen zitiert wird, integriert die beiden Hinsichten wie folgt:
Im Gottesdienst vollzieht sich das «darstellende Handeln» der Kirche als öffentliche symbolische Kommunikation der christlichen Erfahrung im Medium biblischer und kirchlicher Überlieferung zum Zwecke der Orientierung, Expression und Affirmation.6
Die Integration von allgemeiner und besonderer Kommunikation – man könnte auch von Form und Inhalt sprechen – wird über die Funktionen hergestellt. In dieser Formel ist die Spur von Schleiermachers Unterscheidung noch deutlich zu erkennen, während sich freilich die Spur Luthers verliert. Gottes heiliges Wort wird gleichsam übersetzt in christliche Erfahrung und aus dem Handeln Gottes wird über das Medium der Erfahrung ein Handeln der Kirche. Diese Definition entwirft eine Sicht des liturgischen Handelns, die wir fortan expressiv nennen. |12|
Sie ist insofern theologisch unterbestimmt, als sie darauf verzichtet, Gottes Selbstmitteilung in die Mitteilung der Liturgie einzuzeichnen. Dass der biblischen und kirchlichen Überlieferung eine (wie auch immer verstandene) Offenbarung vorausgeht, wird zwar nicht bestritten, aber in dieser Vor(an)stellung auch nicht länger thematisch. Damit verliert die Rede von Gott in der Rede über den Gottesdienst an Bedeutung. Denn wenn die göttliche Rede nur voran- und vorausgesetzt wird, spielt sie für die Wahrnehmung der Unterredung im Gottesdienst keine Rolle mehr. Die Wahrnehmung der Liturgie steht unter dem Prinzip etsi deus non daretur.
Читать дальше