Geoffrey unternahm nichts, um seine Homosexualität zu verbergen, die allgemein akzeptiert wurde. Ihn umgab kein Geheimnis, und er machte keine offenherzigen Avancen. Mich sorgten eher die Lehrer, die die Universität besucht hatten und daraufhin direkt ins Internat zurückkehrten: Ich empfand das als eindeutiges Zeichen, dass Etwas nicht stimmte. Geoffrey gehörte eher zu den Außenseitern im Lehrkörper, doch ich wollte bei meiner verbotenen Aktivität trotzdem nicht erwischt werden. Als er immer näher kam, drehte ich den Lautstärkeregler im Halbschlaf unglücklicherweise nicht runter, sondern rauf. Der kreischende Sound katapultierte mich in die Höhe, wobei das Radio unter dem Kopfkissen wegrutschte und mit einem Knall auf den Boden fiel.
Es wirkt zutiefst ironisch, dass der Musiklehrer mein Radio konfiszierte, doch das entsprach dem Geist von Charterhouse: Rein gar nichts ergab einen Sinn.
Ein lang andauernder Hass auf Autoritäten und kleinkarierte Bürokratie ist eine der Nachwirkungen meiner Privatschulzeit. Wenn ich einen vernünftigen Grund hinter einer Anordnung erkenne, kann ich damit umgehen, doch dümmliche Regeln und Vorschriften kotzen mich an. Darum hätte ich es wahrscheinlich auch nicht lange in der Navy ausgehalten.
Tony Banks, Peter Gabriel und Anthony Phillips waren Duckites, einem anderen Haus, zugeteilt worden und gehörten wie ich zu den unerwünschten Elementen. „Ant“ trug die Haare gefährlich lang, doch er glänzte beim Kricket, wodurch man ihm verzieh. Mich beeindruckte hingegen sein Können als Gitarrist.
Ich begegnete Ant zum ersten Mal im „Rock Soc“, einem im Keller gelegenen Raum, in dem sich Musiker trafen. (Aus heutiger Sicht klingt der Name erstaunlich fortschrittlich: Erst in den Siebzigern in den USA bemerkte ich, dass alle über „Rock“ sprachen, obwohl es bei ihnen wie „Wrock“ klang.) Ant besaß eine rote Stratocaster und einen Vox AC 30-Verstärker, Equipment, das die Profis benutzten. Charterhouse konnte nicht mit etwas ähnlich Aufregendem aufwarten. Ant war schmächtig, hatte weiß-blonde Haare und eine Nase, die der von Pete Townshend ähnelte. Seine Finger und die Gitarre verschmolzen zu einer natürlichen Einheit. Manchmal kann man schon voraussehen, ob ein Musiker gut auf seinem Instrument ist, obwohl er noch keinen einzigen Ton gespielt hat.
Ant war bei einer Session der Swinging Blue Jeans gewesen, die Hits hatten wie „Good Golly Miss Molly“ und „Hippy Hippy Shake“, und kannte mehr Akkorde als ich. Er spielte sogar schon ein bisschen Lead-Gitarre. Da er in einem anderen Haus wohnte (einen Jahrgang unter mir), hätten sich unsere Pfade eigentlich nicht gekreuzt, doch er nahm mich unter seine Fittiche und lehrte mich genau das, was mir ein Bert Weedon nicht hatte vermitteln können.
Während meiner ersten Jahre in Charterhouse lebten meine Eltern 230 Meilen entfernt in Cheshire, was den Eingewöhnungsprozess nicht gerade begünstigte, doch während meiner letzten zwölf Monate dort ging Dad in Rente, und die beiden zogen nach Farnham. Hill Cottage, das neue weißverputzte Haus hatte drei Zimmer und stammte aus den Vierzigern. Es lag auf einem Hügel über der Kreuzung an der Frensham Road und war verglichen mit Far Hills kleiner. Während des Umzugs stellten meine Eltern einige der Möbel zur Aufbewahrung bei mir unter – ein dreiteiliges Sofa, einige Teppiche und ein paar ganz normale Lampen. Als Chare mein Studienzimmer betrat, hörte ich sein Keuchen: „Was ist das, Rutherford?“ Chare veranlasste meine Eltern, alles abzuholen, denn für ihn symbolisierten Teppiche den Höhepunkt der Dekadenz. Nach dem Ortswechsel besuchten wir mit der ganzen Familie den Officer’s Club in Aldershot und aßen ein Currygericht zum Lunch. (Ich vermute, dass Dad bei diesem speziellen Essen das Gefühl überwältigte, er könne sich in jeder nur erdenklichen Ecke des Empires aufhalten … Na ja, es war auch das einzige Gericht des Officer’s Club.) Mein Vater hatte gespürt, dass wir uns auseinanderlebten, und so nahm er mich mit zum Segeln auf dem Hawley Lake. Ich bin nicht sicher, ob er mich dadurch an sich binden oder mich wieder in Richtung Karriere bei der Marine steuern wollte.
Ich erschien in ganz normaler Kleidung, trug einen Blazer und eine Krawatte, aber immerhin Segelschuhe. Mein Vater – obwohl er zivil trug – wurde von den pensionierten Betreibern der Segelschule (ehemalige Angehörige des Militärs) noch als Captain angesprochen. Sie hätten sich nicht besser um uns bemühen können. Das kleine Boot stand parat und war technisch im besten Zustand, und beim Einsteigen reichte man Dad sogar voller Respekt die Hand. Und schon ging’s los. Und alle schauten wie gebannt zu. Bereit zur Show?
Ich glaube immer noch, dass es ein übermäßig stürmischer Tag gewesen sein muss.
Hawley Lake klingt wie ein harmloser Ort, doch an diesem Nachmittag war es ein vom Wind aufgepeitschtes Gewässer. Als ich das Segel setzte, dämmerte mir schon, welches Schicksal mir bevorstünde. Während das Segeltuch unkontrolliert hin und her flatterte, versuchte Dad mir nach Kräften zu helfen.
„Halt den Klüver!“, schrie er.
„Das mache ich doch!“, schrie ich zurück.
Natürlich machte ich nichts, und das aus einem guten Grund. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ein Klüver sein konnte. Zumindest wusste ich aber, wie man schwamm! Was sich an dem Tag als überaus nützlich herausstellte.
Möglicherweise lag in dieser Episode einer der Gründe, warum mich Dad nicht daran hinderte, ins Musikgeschäft einzusteigen. Allerdings war meine Marinekarriere noch nicht völlig ins Wasser gefallen.
In Charterhouse zählte der Militärdienst zu den Pflichtübungen: Army, Air Force oder Navy.
Ungefähr 80 Prozent der Jungen waren in der regulären Army, weil dort die Dienstzeit begann, und weil es sie nicht juckte, zu den eher interessanten Streitkräften zu wechseln. „Der Marsch“ stellte die größte Herausforderung des Armeedienstes in Charterhouse dar. Überraschenderweise ging man während dieser Tortur durch einige wunderschöne landschaftliche Flecken. Die Route führte über Haslemere und durch den Devil’s Punchbowl. Allerdings betrug die Strecke 50 Meilen. Als ich an die Reihe kam, brachte ich die Prüfung zufriedenstellend hinter mich, aber dennoch musste ich sie wiederholen. Ich weiß nicht, was geschehen war – vielleicht hatte da ein Taxi eine Rolle gespielt –, doch danach verließ ich den Haufen und ging zur Navy.
Zurückblickend gesehen war das eine unüberlegte Entscheidung. Im Winter hockten wir drinnen herum und übten uns im Knotenknüpfen – das ist kein Scherz –, und im Sommer segelten wir auf den Frensham Ponds. (Das Segeln fiel mir leichter, als Dad mich nicht mehr dabei beobachtete.) Es gab jedoch einen großen Vorteil. Jedes Jahr im Zeitabschnitt, den wir Cricket nannten, musste der Haufen aus der Army in voller Ausrüstung und mit Rucksack feldeinwärts marschieren – und das unter brütender Sonne. Diesen Tag verbrachte ich meist auf dem Rücken liegend im Bootsschuppen bei Frensham Ponds. Ich trank mit Ant Cidre, der auch schon herausgefunden hatte, wie man seine Zeit am besten verbrachte.
Wenn man gut beim Sport war, zeigte Charterhouse ein anderes Gesicht. Ich wusste, dass Golf nicht mit Rugby oder Football mithalten konnte – wer in diesen Sportarten glänzte, befand sich hinsichtlich der Popularität in einer anderen Liga –, aber ich glaubte auf meinen Erfolg in The Leas aufbauen zu können. Dann erteilte mir Chare ein Verbot. Für ihn war Golf ein Spiel der Individualisten, das sich gegen das Establishment richtete, besonders auch, wenn es ein Rebell wie ich ausüben wollte.
„Rutherford, ich untersage es dir! Du musst am Teamsport teilnehmen.“
Was sollte man machen? Danach bedeutete Sport in Charterhouse Kricket, das in Liga C, viertes Team, zu einer wahren Teamleistung ausartete.
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