1 ...7 8 9 11 12 13 ...27 Aber auf Jamaika rechnete niemand mit der Wirkung, die die Musik von Marley und Begleitern einmal auf der ganzen Welt haben sollte. Während der meisten Entwicklungsphasen des Jamaika-Rock waren die Wailers in der Karibik kommerziell recht erfolgreich gewesen. Aber nachdem sie 1972 ihren Vertrag bei Island Records unterschrieben hatten, brachten die Wailers als Gruppe auf dem international vertriebenen Island-Label elf erfolgreiche Alben heraus (sowohl Peter Tosh als auch Bunny Wailer, die die Gruppe 1975 verließen, haben noch zahlreiche Soloalben veröffentlicht). Dargebracht wie inbrünstige Beschwörungsformeln im Patois, wurden die Songs der Wailers zu einer weltweiten Sensation, und Marley wurde als ein Mann von herausragendem musikalischem und gesellschaftspolitischem Einfluss gepriesen. Von 1976 an waren Konzerte der Wailers immer ausverkauft. Und sie traten in allen Teilen der Welt auf: in den USA, Kanada und Frankreich, in Großbritannien, Italien (wo sie 1980 bei einem einzigen Konzert 100.000 Besucher zählen konnten), in Westdeutschland, Spanien, Skandinavien, Irland, Belgien, der Schweiz, Japan, Australien und Neuseeland, an der Elfenbeinküste und in Gabun. Bis heute sind Alben der Wailers für 240 Millionen Dollar verkauft worden, wobei beträchtliche Verkäufe auch in Ländern erzielt wurden, in denen die Gruppe nie aufgetreten ist: Brasilien, Senegal, Ghana, Nigeria, Taiwan und den Philippinen. Marley selbst wurde zu einem Idol geradezu fantastischen Ausmaßes, und auf seinen Reisen durch Südamerika, Afrika, die USA, Europa und natürlich die Karibik wurde er immer wieder von Menschenmassen umdrängt.
Wenn man sich vergegenwärtigt, wie groß seine Befähigung gewesen ist, die Menschen mit seinen extrem engagierten Songs über die Erhebung und gesellschaftliche Revolution in der Dritten Welt in seinen Bann zu schlagen, erscheint es wie eine Ironie, dass Marleys politische Bindungen niemals klar zu identifizieren gewesen sind. Das aber war wohl der am wenigsten verblüffende Aspekt an einem Mann, der den Eindruck erweckte, als bemühe er sich absichtlich, seine schon so wenig greifbare Persönlichkeit noch undurchschaubarer zu machen. An Bob Marley bleibt so vieles rätselhaft. In ihm schienen sich die magischen Eigenschaften von ›Anancy‹ zu verkörpern, jener koboldhaften Spinne aus der afrikanischen Folklore, die über die Fähigkeit verfügt, ihre körperliche Erscheinungsform willkürlich zu verändern, und zudem listig genug ist, um manchmal sogar das höchste Wesen zu täuschen. (Die Anancy-Geschichten wurden im 17. Jahrhundert von Sklaven, Angehörigen der Akan von der Goldküste [jetzt Ghana] nach Jamaika gebracht und in den Twi-Dialekten erzählt und überliefert [Ashanti, Fanti und Akwapim], die die wichtigste Grundlage des jamaikanischen Patois bilden.) Marley wurde für sein Volk zu einer symbolischen, überlebensgroßen Figur, so wie Anancy in der Vorstellung der Sklaven zu einem Symbol des Mutes wurde, das von der Idee getragen ist, eine mutmaßlich niedrige Kreatur sei durchaus in der Lage, ihre mächtigen Widersacher zu überlisten.
Wenn man in Anwesenheit seiner Unterdrücker Anancy-Geschichten auf Patois erzählte, konnte man seine Selbstachtung steigern, da man ja die Sklavenhalter, die dieser Sprache nicht mächtig waren, verspottete. Zudem dienten diese Fabeln als ständige Auffrischung des reichen kulturellen Erbes, von dem die Sklaven so brutal abgeschnitten worden waren. In der jamaikanischen Kultur genießt die Kunst des Geschichtenerzählens ein hohes Ansehen, und der geübte Erzähler versteht es, auf geschickte Weise jedwede Unterschiede zwischen überlieferten Geschichten und seinen persönlichen Erlebnissen zu verwischen. Die besten Geschichten sind Arabesken aus übernatürlicher Bedrohung und verdrehtem Humor.
In einem Land, wo so viele Menschen so wenig besitzen, ist die persönliche Mystifikation ein hochgeschätztes gesellschaftliches Kapitel – mit dem man sich den bleibenden Respekt der anderen erkaufen kann. Eine wohlvertraute Figur, über die sich nur höchst wenig in Erfahrung bringen lässt, gewinnt so machtvolle Präsenz.
Bob Marley war so ein Mann. Besessen von seiner Privatsphäre, wendete er beträchtlich Zeit und Mühe auf, um im Laufe seines gesamten Lebens ein ausgeklügeltes Schutzsystem für die so wertvolle Mystifikation seiner eigenen Person aufzubauen. Jahrelang bestand er zum Beispiel darauf, in Afrika geboren worden zu sein wie auch seine Eltern. Niemand, der mit Marley zu tun hatte, war er auch noch so nah, vermochte sich ein vollständiges Bild des Mannes zu machen. Das Netz eingeschränkter vertraulicher Selbstdarstellung, das Marley im Laufe der Jahre knüpfte, war allumfassend und betraf Geschäftsvereinbarungen, außereheliche Affären, seinen Tagesablauf ebenso wie die Zusammenarbeit an Songs. (Um in späteren Jahren seine Verlagsinteressen zu wahren, hat er angeblich listige Vereinbarungen getroffen, durch die viele seiner Songs Freunden aus dem Ghetto oder sonstigen Randfiguren zugeschrieben wurden.)
Seine Landsleute schätzten ihn wegen seines undurchschaubaren Charakters, wegen seines unergründlichen Verhaltens. Sie bewunderten, dass es ihm gelungen war, aus der kläglichen Armut aufzusteigen und einer der berühmtesten Männer zu werden, die je aus der Karibik kamen, und sie waren wie verhext von der intensiven Darstellungskraft seiner Art, Geschichten zu erzählen, wie zum Beispiel in der furchterregenden Vision von ›Burnin’ and Lootin’‹, in der ein Mann beim Erwachen feststellt, dass er sich im Gewahrsam anonymer und bewaffneter Beamten befindet, ein unschuldiges Opfer des Kriegsrechts, während draußen der Aufruhr wütet.
Am erstaunlichsten aber ist an Marleys Aufstieg zum Ruhm, dass seine Fans auf der ganzen Welt nur sehr wenig von den thematischen Grundlagen seiner Musik wussten, von den verschiedenen Ebenen, auf denen seine Botschaft überbracht wurde, und von der Rolle, die der Rastafarianismus und die traditionelle jamaikanische Kultur in alledem spielten. Einer seiner lebendigsten Songs ist ›Small Axe‹, ein fast heiteres Stück Reggae-Scharfsinn. Was wie eine simple Allegorie erscheint, in der ein Holzfäller einen großen Baum darüber informiert, dass er bald gefällt wird, ist tatsächlich eine dreifache Aussage, die von den Jamaikanern sehr schnell verstanden wird, fast allen anderen jedoch absolut unverständlich bleiben muss. Nicht nur ist ›Small Axe‹ als Warnung an die Unterdrücker allerorten gedacht, dass eines Tages die Völker der Dritten Welt sich gegen sie erheben werden, sondern es ist auch eine Herausforderung, die ihren ganz besonderen Stellenwert in der jamaikanischen Plattenindustrie hat. Als der Song von Marley und dem bekannten Produzenten Lee Perry aus Kingston geschrieben wurde, bezog er sich auf ›the Big Tree‹, das diktatorische Triumvirat der Schallplattenfirmen auf der Insel – Dynamic, Federal und Studio One. Und das zentrale Bild des Bäumefällens, begleitet von der Entschuldigung, es geschehe nur auf den Wunsch eines Vorgesetzten hin, ist ein nüchterner Verweis auf die alte Hackordnung zu Zeiten der großen Plantagen, als man Sklaven befahl, die gigantischen Wollbäume zu fällen, die ihnen heilig waren, und sie daher etwas Rum an deren Wurzeln tropfen ließen und ein Klagelied sangen. Das taten sie, um die in dem Baum wohnenden Geister zu besänftigen und ihnen glaubhaft zu machen, dass ihre Vernichtung nicht die Idee der Sklaven war, sondern auf Befehl der Herren geschah.
Dass so viele Menschen auf der Welt Marley Platten schätzten und ihn als revolutionären Rasta-Aufwiegler verehrten, obwohl sie doch nie ganz seine komplexe Botschaft verstanden, machte ihn bei seinen Leuten nur umso beliebter. Sie wussten um das Ausmaß seiner Leistungen und betrachteten sein Werk und seine Erfindungskraft als etwas durchaus Mystisches. Er war ein Schamane, ein rechtmäßiger Apostel Jahs, der die Sündigen schalt, die Verderbenbringenden bedrohte und in einer geheimen Sprache, welche dem ungeübten Ohr niemals ganz verständlich sein konnte, den Rechtschaffenen seine Botschaft vermittelte.
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