Teil des Problems ist die Brandmarkung der Terroristen als un-»zivilisierte« Außenseiter. Dass ein solch raumgreifender Krieg gegen den Terror gedacht werden kann, hat auch mit kulturellen Vorurteilen gegenüber dem Islam zu tun. Man stelle sich vor, die Anschläge wären von deutschen oder französischen Terroristen verübt worden. Es wäre wohl kaum zu einer Bombardierung von Teilen Europas gekommen. Der Westen geht mit dem islamistischen Terror anders um als mit bisherigem links- und rechtsradikalem Terror. Terror wird als zentral für » den Islam« gedeutet. Daher werde die Gewalt der Islamisten in »einem unmenschlichen Niemandsland weit außerhalb […] der modernen säkularen Welt« verortet, wie der Schriftsteller Pankaj Mishra meint. Auf dieser Ausgrenzung des Islamismus aus »unserer Welt« basiert eine präventive Terrorismusbekämpfung, die ganze Länder und Millionen Unbeteiligte in Mithaftung zieht. Auch Deutsche sind nicht frei von derartigen Anwandlungen, wird doch nach einem geflügelten Wort von Verteidigungsminister Peter Struck 2002 unsere Sicherheit auch »am Hindukusch verteidigt«.
Der 11. September führt überall in der Welt zu einem vorübergehenden Bruch der Alltagsroutinen. Viele Menschen können davon persönlich berichten. Die Nachricht von den Anschlägen verbreitet sich wie ein Lauffeuer um den Globus. Eine Stunde nach den Anschlägen haben 70 Prozent der Deutschen davon erfahren. Tags darauf ist die gesamte deutsche Bevölkerung informiert, Alte, Kranke, Jugendliche und Kinder eingeschlossen. In den USA verbreitet sich die Nachricht noch schneller. Dort wissen 60 Minuten nach dem Aufprall des ersten Flugzeugs 90 Prozent der Amerikaner Bescheid. So weit Fernsehen und Internet reichen, sehen Menschen weltweit dieselben schrecklichen Bilder. Das »globale Dorf« des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan wird für ein paar Stunden Realität. Identische Aufnahmen flimmern über Bildschirme in Kansas wie auf der Schwäbischen Alb, im australischen Outback, den Favelas von Rio, den Townships von Soweto oder den Glastürmen von Hongkong und Tokio.
Ich selbst sitze an meinem Schreibtisch außerhalb von Heidelberg, feile, Wissenschaftler und Autor, der ich nun einmal bin, an einem Text; ich werde, da kein Mensch damals permanent »online« ist, durch den Anruf eines Kollegen alarmiert. Wir sehen die Nachrichten heimlich bei Nachbarn, um die schrecklichen Bilder von unseren kleinen Kindern fernzuhalten. Als ich zehn Jahre später an der Universität Augsburg Seminare über 9/11 zu geben beginne, ist die für die Anfang der 1990er Jahre in Süddeutschland geborene Studierendengeneration typische Erzählung, dass sie sich zu Hause zurück an einem der ersten Schultage nach den Ferien verwundert fragten, warum ihre Mutter oder Großmutter (Väter kommen kaum vor), gegen alle Sitte und allen Anstand, am helllichten Tag einen Horrorfilm guckt! So ganz neben der Spur liegt das nicht, denn Reaktionen auf 9/11 sind durch fiktive Inszenierungen des Terrors in Hollywoodfilmen wie The Siege (1998, R: Edward Zwick) kulturell vorgeprägt.
Jene, die in den 2000er Jahren geboren wurden, haben dagegen keine persönliche Erinnerung an den 11. September. Sie wissen davon aus Familienerzählungen und aus den Medien. So schnell wächst ein Ereignis aus der Zeitzeugenschaft hinaus. Für meine Generation ist 9/11 so irritierend, weil wir mit der demokratischen Fortschrittserzählung der »Wende« von 1989/90 politisch erwachsen wurden. Schockierend die Eindrücke auf einer Forschungsreise in die USA zwei Wochen später: Die Angst hatte sich in der US-Gesellschaft eingenistet. Es ist die Zeit mysteriöser Anthrax-Anschläge. Fühlte man sich früher an manchen Ecken von Washington erst sicher, wenn man es in die Metrostation hineingeschafft hatte, so ist es nun umgekehrt: möglichst schnell nach oben. Deprimierend die Militarisierung der Hauptstadt, einst frei zugängliche Orte wie die Kapitolsterrasse sind weiträumig abgesperrt. Befremdlich der extreme Nationalismus bisher vernünftig wirkender Amerikaner: Sie phantasieren von heroischen Taten ihrer Geheimdienstagenten, die in Filmmanier Terroristen heimlich, still und leise abmurksen. Doch es wird kein leiser Schattenkrieg.
Das World Trade Center in Flammen. Flug UA 175 schlägt in den Südturm (WTC 2, links) ein
Niemand kann sich dem 11. September entziehen. Die Bilder kolonisieren unser Gedächtnis: Die Fotos des Aufpralls und der Explosion des zweiten Flugzeugs (UA 175) in den Südturm sind global zitierbare Bildikonen geworden. Menschen weltweit können sie auf Befragung zuordnen. Das ist insofern bemerkenswert, weil der 11. September medientechnologisch gesehen noch im vordigitalen Zeitalter liegt. Bei der Erstverwertung dominiert das Fernsehen; zuhause oder auf öffentlichen Bildschirmen etwa in Bahnhöfen erfahren 47 Prozent der Deutschen von den Anschlägen; in der Zweitverwertung kommt ebenfalls ein etabliertes Medium zum Zug: Zeitungen. Diese sind am folgenden Tag komplett ausverkauft. Webbasierte Medien bestimmen erst in dritter Linie den Deutungsmarkt. Das damals neue Internet ist sehr begrenzt, populäre Nachrichtenseiten sind aufgrund der massiven Zugriffe schnell überlastet, Smartphones noch völlig unbekannt. Nur drei Prozent erfahren via Internet zuerst von den Anschlägen. Medial gehört 9/11 noch zum 20. Jahrhundert, als robust massenmediale, prädigitale Erfahrung.
Der Anfang vom Ende des amerikanischen Jahrhunderts
Medial mag 9/11 aus einem Drehbuch des 20. Jahrhunderts stammen wie auch die Reaktionen der Regierung Bush einem Narrativ aus dem Zeitalter der Totalitarismen folgen, als die amerikanische Demokratie sich dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus entgegenstellte. Doch geopolitisch hat 9/11 das Gegenteil des von der Bush-Administration und den Propheten eines »neuen amerikanischen Jahrhunderts« Intendierten bewirkt, die eine Verlängerung der amerikanischen Hegemonie weit in das 21. Jahrhundert beabsichtigten: Die westliche Demokratie ist beschädigt; die überragende Überlegenheit des US-Militärs und dessen Fähigkeit, jeden x-beliebigen Ort der Welt minutenschnell in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, hat weder Amerika zu mehr gefühlter Sicherheit verholfen noch zu einem klaren Sieg in Afghanistan oder im Irak. Im Inneren ist Amerika zutiefst verwundet, die äußere Sicherheit wirkt nur oberflächlich wiederhergestellt. Der Terror metastasiert weiter, selbst nachdem Bin Laden 2011 von einem US-Kommando aufgespürt und hingerichtet worden ist. Der »Islamische Staat« ist nur das jüngste Symptom eines monumental gescheiterten nation building im Irak und in der arabischen Welt.
Die Kriege des 11. September haben Amerikas Weltstellung mehr als nur angekratzt. Der »Aufstieg der Anderen« (Fareed Zakaria) wird beschleunigt. Sicher, wir sollten die USA nicht unterschätzen: Ihre Bevölkerung und ihre Wirtschaft wachsen weiter; ihre Kultur strahlt aus; als Migrationsziel sind sie trotz vehementer innergesellschaftlicher Verwerfungen weiter attraktiv; sie werden auch künftig mit China, vielleicht auch Indien, der EU und Russland, eine Weltmacht bleiben. Doch das Scheitern des überzogenen »Projekts für ein neues amerikanisches Jahrhundert« hat ihr globales Ansehen unterminiert, selbst wenn die Wahl Barack Obamas 2009 das Bild zeitweilig aufhellen kann. Die Ideale, für die Amerika einst stand, sind besudelt: Freiheit, Gleichheit, Pluralismus, Toleranz; die Idee einer demokratischen Zivilisation, von Bush vollmundig beschworen, wirkt angezählt, durch Gewalt beschädigt. Die Kriege zehren Amerika sozialpsychologisch aus. So hat 9/11 den Aufstieg von Donald Trump und America First erleichtert, wenn nicht überhaupt erst möglich gemacht.
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