Diesen „Plan B“ haben wir ohne sein Wissen arrangiert, aber da ich ihm sagte, er solle sich keine Sorgen machen, ahnt er wahrscheinlich etwas, will es aber offenbar nicht genauer wissen. Muss er auch nicht. Noch nicht.
Mit mir selbst habe ich abgemacht, dass ich dann, wenn Tom Mesereau andeutet, dass sich die Waagschalen der Justiz zu unseren Ungunsten neigen, alles vorbereite und Michael zum Flughafen im San Fernando Valley vor den Toren von L.A. bringe. Wir werden ihn nachts, unter einer Decke versteckt, aus Neverland herausschmuggeln. Oder etwas in dieser Art unternehmen. In der Zwischenzeit versuche ich, Ruhe zu bewahren, denn bisher hat Tom nichts weiter gesagt als: „Ja, das war ein guter Tag für uns“, auch wenn die Zeugenaussagen allesamt schrecklich klangen. Er kennt sich mit den Nuancen aus, die für die Beweisführung von Bedeutung sind, und er weiß, wann die Staatsanwaltschaft mit den schweren Geschützen danebenschießt. Wir haben schnell gelernt, den Prozess nicht nach der Medienberichterstattung zu beurteilen. Also warte ich ab, aber dieses Vertrauen kostet mich meine ganze Kraft und bringt mich dazu, Botschaften auf Badezimmerspiegel zu schreiben.
Als ich später ins Auto steige und wie mit eingeschaltetem Autopiloten nach Süden fahre, frage ich mich, woher Michael die Kraft und den Glauben nimmt, um all das durchzustehen. Ich spüre, dass enorm viel Stolz in ihm steckt, und das zu einer Zeit, in der man sich aufgrund der unausgewogenen Presseberichte darauf eingeschossen hat, ihn für schuldig zu halten, bis das Gegenteil bewiesen wurde. Man suhlt sich im angenehmen Kitzel des vermuteten Verbrechens, während entlastende Punkte allenfalls in Fußnoten vermerkt werden. Wieder kommt mir in den Sinn, was Michael 2003 einmal zu mir sagte, als der ganze Irrsinn begann: „Lügen sind gute Sprinter, aber die Wahrheit ist ein Marathonläufer … und die Wahrheit wird gewinnen.“ Ein wahres Wort.
Ich versuche mir vorzustellen, dass er als freier Mann aus dem Gericht kommt. Wie eine Szene aus einem Film. Wenn diese ganze Geschichte vorüber ist, dann werde ich alles tun, um seinen guten Namen in der Öffentlichkeit wiederherzustellen. Es wird nichts mehr geben, was man ihm sonst noch vorwerfen kann. Und ich werde ihn verteidigen, weil ich weiß, was ihn antreibt – ich kenne sein Herz, seinen Geist, seine Seele, seinen Ehrgeiz. Ich kenne den Jungen in dem Superstar-Kostüm. Ich kenne den Bruder aus der Jackson Street 2300. Seit unserer Kindheit sind wir eng miteinander verbunden, haben alles gemeinsam erlebt: den Traum, die Jackson 5, den Ruhm, die Trennung, die Streitereien, die Sorgen, die Skandale, den wahnsinnigen Druck. Er hat vor mir geweint. Ich habe ihn angeschrien. Er hat sich geweigert, mich zu sehen. Er hat mich angefleht, bei ihm zu bleiben. Wir wissen um unsere gegenseitige Loyalität und auch um den unbeabsichtigten Verrat. Und wegen all der Dinge, die dahinterstecken, wegen unseres brüderlichen Zusammenhalts, kenne ich seinen Charakter und seinen Verstand so gut, wie man es als Blutsverwandter nur kann.
Eines Tages, sage ich mir, wenn 2005 hinter uns liegt, dann werden ihn die Leute in Ruhe lassen und versuchen, ihn zu verstehen, anstatt über ihn zu richten. Sie werden ihn so sanft und mitfühlend behandeln, wie er selbst anderen gegenüber ist. Sie werden ihre vorgefertigten Meinungen vergessen und ihn nicht nur durch seine Musik wahrnehmen, sondern als Menschen sehen: unperfekt, komplex, fehlbar. Jemand, der ganz anders ist als das Image, das er besitzt.
Eines Tages wird die Wahrheit den Marathon gewinnen.
Michael stand neben mir. Ich war ungefähr acht und er gerade mal vier Jahre alt, und er stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett und das Kinn in die Hände. Wir beide sahen im Dunkeln aus unserem Zimmerfenster ehrfürchtig zu, wie an Heiligabend der Schnee fiel. Die Flocken wirbelten so dicht und heftig zur Erde, als ob über unserem ganzen Viertel eine himmlische Kissenschlacht tobte, und jede herabfallende Feder wurde vom klaren Licht einer Straßenlaterne angestrahlt. Die drei Häuser auf der anderen Straßenseite waren mit bunten Lichterketten geschmückt, während sich die Whites von schräg gegenüber für normale Glühbirnen entschieden hatten; dafür hatten sie im Garten noch dazu einen Weihnachtsmann und Rentiere mit leuchtenden Nasen aufgestellt. Weiße Lichter fassten das Dach ein, beleuchteten die Auffahrt und schimmerten blinkend in den Fenstern, die einen Blick auf den üppigsten Weihnachtsbaum boten, den wir je gesehen hatten.
All das betrachteten wir von einem Haus aus, in dem es keinen Baum, keine Lichter, kein Garnichts gab. Unser kleines Häuschen in der Jackson Street, Ecke 23. Avenue, war das einzige nicht geschmückte weit und breit. Uns kam es so vor, als sei es das einzige in der ganzen Stadt, aber Mutter versicherte uns, nein, es gebe andere Häuser und andere Zeugen Jehovas, die auch nicht Weihnachten feierten, so wie Mrs. Macons Familie zwei Straßen weiter. Aber dieses Wissen half uns nicht dabei, die ganze Sache zu begreifen: Vor unseren Augen fand so etwas Schönes statt, etwas, das uns ein wunderbares Gefühl vermittelte, aber ständig bekamen wir eingebläut, es sei nicht gut für uns. Weihnachten, so hörten wir, war nicht Gottes Wille, es war reiner Kommerz. Wenn es auf den 25. Dezember zuging, dann hatten wir den Eindruck, als ob wir Zeugen eines Festes würden, zu dem wir nicht eingeladen waren, aber dessen verbotener Geist uns trotzdem umfing.
Wir saßen da an unserem Fenster und blickten wie aus einer kalten, grauen Welt auf einen Spielzeugladen, in dem alles lebendig war und in buntesten Farben schimmerte, wo Kinder mit ihren neuen Schätzen auf die Straße hinausliefen, ihre neuen Fahrräder ausprobierten oder neue Schlitten durch den Schnee zogen. Wie sich die Freude anfühlte, die wir auf ihren Gesichtern ablesen konnten, das vermochten wir uns nur vorzustellen. Michael und ich spielten unser eigenes Spiel am Fenster: Wir wählten eine Schneeflocke im Laternenlicht, verfolgten ihren Fall und guckten, welche als erste „auftupfte“. Wir sahen den Flocken zu, wie sie in der Luft einzeln herumwirbelten und sich am Boden dann mit den anderen verbanden, zu einer wurden. An jenem Abend verfolgten wir vermutlich ein paar Dutzend und zählten laut mit, bevor wir irgendwann verstummten.
Michael sah traurig aus. Wenn ich mich heute an diesen Moment erinnere, dann sehe ich mich als großer Bruder mit meinen acht Jahren neben ihm stehen und auf ihn hinunterblicken, während ich die gleiche Traurigkeit empfand. Dann begann er zu singen:
„Jingle bells, jingle bells, jingle all the way
Oh what fun it is to ride,
On a one-horse open sleigh …“
Das war das erste Mal, dass ich seine Stimme mit ihrem engelsgleichen Klang bewusst wahrnahm. Er sang leise, damit Mutter es nicht hörte. Ich fiel ein, und wir sangen zweistimmig, ein paar Strophen von „Silent Night“ und „Little Drummer Boy“. Zwei kleine Jungen, die an der Schwelle ihres ausgegrenzten Daseins Weihnachtslieder sangen, die wir in der Schule aufgeschnappt hatten, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, dass die Musik eines Tages unser Beruf sein würde.
Während wir sangen, lag ein breites Lächeln auf Michaels Gesicht, denn wir hatten uns ein kleines Stück Magie stibitzt. Für einen kurzen Augenblick waren wir glücklich. Aber dann hörten wir auf, weil dieses kurzlebige Gefühl uns umso stärker verdeutlichte, dass wir ja nur so taten, als ob wir an dem Fest teilnähmen. Der nächste Tag würde bei uns so sein wie jeder andere. Ich habe oft gelesen, Michael habe Weihnachten nicht gemocht, weil es in unserer Familie nie gefeiert wurde. Das stimmt nicht. Spätestens seit dem Augenblick nicht, an dem er mit vier Jahren zum Haus der Whites hinübersah und sagte: „Wenn ich mal groß bin, will ich Lichter haben. Jede Menge. Dann ist jeden Tag Weihnachten.“
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