Auch die Langlebigkeit unserer Musik erstaunt mich stets aufs Neue. Joy Division begannen 1977 – und jetzt sind wir hier, mehr als drei Jahrzehnte später, so populär wie eh und je und gewinnen fortlaufend neue Generationen von Hörern für uns. Auf unserer jüngsten Tour erkundigte ich mich bei ein paar der Fans, die noch keine 20 waren, wie sie New Order entdeckt hätten. In der Regel waren ihre älteren Geschwister für den ersten Kontakt verantwortlich. Manche hatten die Plattensammlungen ihrer Eltern nach Brauchbarem durchstöbert und waren dabei auf uns gestoßen, was ich fantastisch finde.
All dies trägt dazu bei, dass wir mit New Order tolle Zeiten durchleben dürfen. In den letzten paar Jahren waren wir so ausgelastet und erfolgreich wie kaum jemals zuvor in der Geschichte unserer Band, die wir vor über 30 Jahren gegründet hatten. In vielerlei Hinsicht gehörten diese Jahre auch zu den schönsten. Was 2011 mit ein paar Benefiz-Konzerten anfing, führte zu einer Reihe von Festival-Gigs, und bevor wir uns versahen, befanden wir uns auf einer mehrmonatigen Welttournee. Seit damals kam es gleich zu mehreren Neuauflagen.
Diese Tour unterstrich neuerlich die ganz spezielle Verbindung, die zwischen Fans und New Order beziehungsweise Joy Division zu bestehen scheint. Egal wo ich hingehe, treffe ich eine ganze Bandbreite von Menschen, jung und alt, die mir Alben für ein Autogramm reichen und mir sagen, wie viel ihnen unsere Musik bedeute und dass sie der Soundtrack zu ihrem Leben gewesen sei oder immer noch sei. Oft fragen sie, ob sie ein Foto mit mir machen dürfen. Sie stehen dann neben mir und halten ihre iPhones, um den Schnappschuss zu knipsen, und ich sehe, wie ihre Hände zittern. Sie sind so leidenschaftliche Fans unserer Musik, dass es ihnen schwerfällt, die Kamera stillzuhalten. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, ein Teil von etwas zu sein, das einen solchen Einfluss auf jemandes Leben hat, egal, ob diese Menschen nun aus einem Vorort von Manchester oder aus den Vororten von Lima, Auckland, Tokio, Berlin oder Chicago stammen.
Die Fans von New Order sind unerschütterlich in ihrer Loyalität. Sie mögen New Order nicht bloß, sie fühlen sich tief verbunden mit der Band und ihrer Musik. Es geht weit darüber hinaus, einfach Gefallen an einer eingängigen Nummer zu finden, nein, es ist etwas ungemein Persönliches. Es ist nicht bloß so, dass sie uns hören, während sie sich um den Abwasch kümmern, oder uns gelegentlich im Radio wahrnehmen. Es handelt sich hier um Menschen, deren Leben sich geändert hat, die eine Art von Trost oder Inspiration in unserem Werk gefunden haben.
Der Hauptfaktor dabei ist natürlich die Musik an sich: Die Leute finden darin etwas, das auf eine sehr nachhaltige Weise ihr eigenes Leben wiedergibt. Für mich war es stets eine Lektion in Demut, von Menschen zu hören, was ihnen unsere Musik bedeutet. Jedoch war das immer eine eher einseitige Unterhaltung. Das heißt: bis jetzt.
Ich bin von Natur aus ein sehr zurückgezogener Typ und habe es stets vorgezogen, die Musik für mich sprechen zu lassen. Über die Jahre hinweg hab ich zahllose Interviews über die Bands, in denen ich spielte, beziehungsweise die Musik, die ich machte, gegeben, aber nie zuvor habe ich dabei irgendetwas davon mit meinem Privatleben in Verbindung gebracht. Mein Leben in der Musik ist komplett von der Person, die ich bin, und den Dingen, die mir widerfahren sind, geprägt. Bei unserer Musik ging es etwa nie darum, auf seinem Instrument besonders virtuos zu sein. Sie ist ohne Einschränkung das Produkt unserer Persönlichkeiten und die Summe all unserer Erfahrungen.
Doch obwohl die privaten Aspekte meines Lebens unverzichtbar für meine Kreativität sind, war mir immer sehr unwohl dabei, über sie zu sprechen. Ich errichtete bereits früh eine Barrikade zwischen meinem privaten und meinem öffentlichen Ich, durch die ich nur selten – falls überhaupt – Durchlass gewährte.
Seit wir jedoch wieder angefangen haben, auf Tour zu gehen, und ich die Reaktionen der Konzertbesucher gesehen habe und gehört habe, was ihnen unsere Musik bedeutet, bin ich ins Grübeln gekommen. Ich habe begriffen, dass ich den Leuten einen Einblick hinter die Kulissen meiner Story schulde, weil ich denke, dass niemand unsere Musik zur Gänze verstehen kann, ohne eine Ahnung davon zu haben, woher sie eigentlich kommt. Das Leben formt einen und das, was das Leben mit einem macht, beeinflusst seine Kunst. Es ist an der Zeit für mich, einige Lücken auszufüllen. Vielleicht hilft es den Leuten dabei, zu verstehen, warum unsere Musik sie so berührt.
Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Leben an einem Punkt angelangt bin, an dem ich meine Geschichte erzählen sollte, bevor ich es vielleicht nie mehr mache. Auf den folgenden Seiten finden sich viele Dinge, bei denen es mir schwerfiel, über sie zu sprechen – Dinge, über die ich noch nie öffentlich geredet habe, die allerdings für ein umfassendes Verständnis meiner Person, meiner Bands und der Musik, die ich half zu kreieren, unbedingt notwendig sind. Mein Schweigen zu Themen abseits meiner Bands hat dazu geführt, dass sich Mythen und Unwahrheiten als Tatsachen etablieren konnten, weswegen ich hoffe, dass ich ein paar der fälschlich entstandenen Eindrücke korrigieren und so viele Mythen wie möglich entkräften kann.
Außerdem ist das, was wirklich geschah, eine viel, viel bessere Story.
Los Angeles brachte die Beach Boys hervor, Düsseldorf gab uns Kraftwerk und New York schenkte uns Chic. Manchester hingegen zeichnet für Joy Division verantwortlich.
Die Harmonien der Beach Boys waren voller Wärme und Sonnenschein, Kraftwerks bahnbrechender elektronischer Pop war erfüllt von Deutschlands wirtschaftlicher und technologischer Wiedergeburt, wohingegen in der Musik von Chic der vergnügliche Hedonismus des New Yorks der späten Siebzigerjahre mitschwang. Joy Division wiederum klangen nach Manchester: kalt, karg und mitunter auch trostlos.
Es gab in meiner Jugend einen Moment, der meiner Meinung nach perfekt illustriert, woher die Musik von Joy Division kam. Es war weniger ein besonderer Vorfall, sondern eher ein Schnappschuss, eine Fotografie, ein Bild vor meinem geistigen Auge, das ich nie wieder vergaß. Ich war ungefähr 16 Jahre alt. Es war eine kalte, traurige Winternacht und ich hing mit ein paar Freunden im Salforder Ortsteil Ordsall ab. Wir hatten keine spezielle Beschäftigung, waren zu alt und ruhelos, um zuhause herumzusitzen, aber noch zu jung, um irgendwo etwas trinken zu gehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Peter Hook mit dabei war, genauso wie ein anderer Freund namens Gresty, aber die Kälte hatte jegliche Unterhaltung erstickt. Über Salford hing in dieser Nacht ein dicker Nebel, die Art von gefrierendem, an Zuckerwatte erinnernden Nebel, dessen Kälte einen bis in die Knochen frösteln lässt. Unseren Atem stießen wir in Schwaden aus, unsere Schultern hatten wir hochgezogen und unsere Hände tief in unsere Taschen gegraben. Aber das, woran ich mich am meisten erinnern kann, ist der Blick die Straße rauf und der Nebel, der den orange scheinenden Straßenlaternen dreckige Heiligenscheine zu verleihen schien. Es gab einem ein Gefühl, als hätte man die Grippe. Das Licht, das diese Natriumdampflampen absonderten, war im besten Falle trübe, aber der Nebel – angereichert mit Schmutz und Industrieabgasen – degradierte sie zu einer Reihe von verschwommenen Kügelchen, aufgefädelt entlang des Straßenrands.
Die Stille wurde plötzlich vom brüllenden Schrei eines Motors sowie dem Quietschen von Autoreifen durchschnitten. Ein Wagen raste um die Kurve. Seine Scheinwerfer blendeten uns für einen Augenblick und ich hörte ein Mädchen, das in dem Wagen saß, wie am Spieß kreischen. Ich konnte keine Insassen erkennen. Da war nur dieser rohe, angsterfüllte Schrei, während das Auto die Straße hinauf jagte und im Nebel verschwand. Rasch wurde es wieder still und ich dachte mir, dass es doch mehr als das hier geben müsse.
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