Eines Tages nahm er mich auf den Schoß. Meine Mutter war noch arbeiten. Es war schon abends, 22 Uhr, und mein Bruder und ich lagen bereits im Bett. Papa kam ins Zimmer, setzte sich ans Bett meines Bruders und bat mich, zu ihm zu kommen. Dann erklärte er uns, dass er bald sterben werde. Wir waren Kinder und überblickten die Bedeutung seiner Worte für unser weiteres Leben noch nicht wirklich. Er hatte Tränen in den Augen, deshalb waren wir natürlich ganz traurig, hatten Angst und sagten: „Papa, warum erzählst du denn so etwas? Das kann doch nicht sein. Nur alte Menschen müssen sterben, oder?!“ Er lächelte und sagte: „Nein. Auch Kinder oder Mamas und Papas müssen manchmal sterben. Ich bin schwerkrank und werde euch bald verlassen müssen.“
Erst viel später erfuhren mein Bruder und ich, dass Papa zu diesem Zeitpunkt noch gar keine tödliche Diagnose bekommen hatte. Aber er ahnte und spürte wohl in jener Nacht, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Papa hatte Lungenkrebs. Und leider nahm dann auch alles schnell seinen Lauf. Allerdings verschlechterte sich nicht nur seine körperliche Verfassung. Auch sein Wesen veränderte sich komplett. Anstatt liebevoll und im Einklang mit uns die ihm verbleibende Zeit zu genießen, wurde er immer launiger und boshafter und flippte oft wegen Kleinigkeiten aus. Aber nicht nur das. Manchmal schrie und schlug er wild um sich. Heute erkläre ich mir sein Verhalten mit der Todesangst, die er gehabt haben muss. Er konnte nicht offen über seine Gefühle reden und versuchte die Angst, meine Mutter und uns zu verlieren, mit sich selbst auszumachen, was leider völlig nach hinten losging. Er wurde nervös, aggressiv und laut und hat des Öfteren meine Mutter geohrfeigt.
Ich erinnere mich an eine Situation, da war ich sechseinhalb, kurz vor Papas Tod. Ich kam von der Schule nach Hause. Mein Vater lag im Bett, und meine Mutter war nicht da. Ich fragte: „Wo ist denn die Mama?“ – „Die ist weg. Die kommt auch nicht mehr“, antwortete er. Ich stand vor ihm und dachte, er mache einen Scherz. Doch er lachte nicht, und ich wollte ihn nicht unnötig anstrengen. Also ging ich ins Wohnzimmer und spielte. Als ich ins Bett ging, war meine Mutter immer noch nicht zu Hause. Ich war mir sicher, dass sie noch arbeitete, konnte jedoch die ganze Nacht über kein Auge zutun, weil ich lauschte, ob die Wohnungstür geöffnet würde. Aber sie kam nicht. Ich war schließlich todmüde, und irgendwann grübelte ich mich in den Schlaf und versuchte, mich zu beruhigen: Mensch, Fredi, die Mama kommt schon morgen früh, jetzt schlaf mal schön ein.
Doch morgens war sie immer noch nicht da. Mein Bruder schmierte uns ein Marmeladenbrot, dann gingen wir zur Schule. Papa lag im Bett. Er verlor kein Wort über Mama. Als ich von der Schule heimkam, war sie noch nicht da. Und als ich ins Bett ging auch nicht.
Am nächsten Morgen ging es meinem Papa plötzlich ganz schlecht. Er fing an, Blut zu spucken, auch aus der Nase lief Blut. Ab diesem Tag hatte er überhaupt keine Kraft mehr, aufzustehen. Er war ein Pflegefall geworden. Doch wer sollte ihn pflegen, wenn Mama nicht da war? Mama, wo bist du? Wir hatten keine Ahnung. Ich sah, wie schlecht es meinem Vater ging, und trotzdem habe ich immer noch gehofft, es würde alles wieder gut werden. Nie im Leben hätte ich daran gedacht, dass mein Vater wirklich sterben würde. Ich versuchte mich abzulenken und ging raus, um meine Mutter zu suchen. Jedes Mal, wenn ich eine Frau sah, die lange schwarze Haare hatte, bin ich ihr hinterhergerannt und habe ihr ins Gesicht geguckt. Mist, sie war es wieder nicht. Ich war sehr enttäuscht. Das war echt schlimm.
Zwei Wochen lang blieb Mama verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Weder mein Vater noch mein Onkel Karlheinz oder meine Tante Eva, die im selben Haus wohnten wie wir, sprachen über sie. Während dieser zwei Wochen ging es meinem Vater immer schlechter. Als ich eines Abends vom Spielen nach oben in unsere Wohnung kam, lag Papa nicht mehr in seinem Bett. Ich rannte zu meiner Tante runter, klingelte wie wild und schrie: „Wo ist denn der Papa?“ Sie sagte: „Der ist hier bei mir, dem geht’s grad nicht so gut.“ Ich war erleichtert. Okay, hier unten war er in guten Händen. Onkel Karlheinz war der Bruder meines Vaters, sie hatten ein enges Verhältnis, was wohl auch der schlimmen Kindheit in Kroatien geschuldet war.
In dieser Nacht kam ein Krankenwagen und holte Papa ab. Tante Eva war in unserer Wohnung. Sie flüsterte: „Kinder, ihr bleibt im Bett. Der Papa muss jetzt ins Krankenhaus.“ Dann war mein Papa im Krankenhaus, meine Mutter blieb verschwunden, und mein Bruder und ich waren allein. Wir wohnten zwar bei unserer Tante. Aber ich fühlte mich total verloren und im Stich gelassen und hatte schreckliche Verlustangst. Jetzt waren alle beide weg! Wo steckten sie denn? Die kommen nicht mehr wieder, ging es mir durch den Kopf, und ich muss bei meiner Tante bleiben. Ich will aber nicht bei meiner Tante bleiben. Ich will zu meiner Mama und zu meinem Papa.
Ich heulte Rotz und Wasser. Ein typisches Kinderverhalten eben. Zwei Tage später hatte ich mich mit der Situation arrangiert. Ich verdrängte die Wahrheit und war nach der Schule draußen bei den anderen Kindern, wir spielten. Plötzlich rief mich unsere Nachbarin zu sich und sagte: „Fredi, komm schnell her. Du sollst sofort zu deiner Tante gehen, dem Papa geht’s nicht gut im Krankenhaus.“ Sie kannte die Wahrheit, weil ihr Mann im selben Klinikzimmer lag wie mein Papa.
Meine Tante und mein Onkel sind dann sofort ins Krankenhaus gefahren –
und ich durfte nicht mitkommen. Ich wollte jedoch so gerne mit. Aber meine Tante hat es mir verboten.
Das war der letzte Tag, an dem mein Papa gelebt hat. Ich habe ihn leider nicht mehr gesehen. Das ist mittlerweile fast 40 Jahre her. Doch sobald ich an den Tag zurückdenke, weine ich sofort los. Das ist wirklich schlimm.
Als mein Onkel und meine Tante nach Hause kamen, sahen sie erschöpft und traurig aus. Sie nahmen uns in den Arm und sagten: „Papa ist gestorben.“ Ich habe geantwortet: „Siehst du, du hast mir verboten, mit ins Krankenhaus zu kommen. Ich wollte den Papa doch so gern noch mal sehen. Das geht jetzt nicht mehr …“ In diesem Moment sind viele, viele Tränen geflossen – und von meiner Mutter gab es immer noch kein Lebenszeichen.
Mein Papa starb am 9. September 1978.
Ein Tag später ist meine Tante mit uns in die Stadt gegangen, um uns schwarze Kleider zu kaufen. Trauerklamotten. Wir waren bei C&A, und ich bin herumgerannt und habe nach bunten Sachen gesucht. Ich wusste ja nicht, dass man Schwarz tragen musste, wenn der Papa gestorben ist. Tante Eva hat mir eine geklatscht und gesagt: „Spinnst du? Du musst nach schwarzen Sachen suchen!“ Aber wie gesagt, ich wusste es nicht. Eine Stunde später sind wir mit zwei Plastiktüten voll schwarzer Kleidung mit dem Bus nach Hause gefahren. Tags darauf kam eine Frau vom Jugendamt. Sie hatte irgendwie mitbekommen, dass meine Mutter weg war und mein Vater gestorben. Sie wollte meinen Bruder und mich ins Heim bringen. Doch meine Tante trat ihr energisch entgegen: „Nein, das machen Sie nicht. Mein Mann und ich nehmen unsere Neffen bei uns auf. Wir werden sie adoptieren. Wir lieben sie ohnehin schon wie eigene Kinder.“
In dem Moment klingelte es. Tante Eva öffnete die Tür – und meine Mutter kam rein. Ich war so was von heilfroh, habe geschrien vor Freude, rannte zu meiner Mutter und habe sie ganz fest gedrückt. „Mama, Mama, du bist wieder da! Geht’s dir gut?“ Sie nickte und weinte und hielt meinen Bruder und mich fest in ihren Armen.
Die strenge Frau vom Jugendamt wirkte nicht besonders erfreut und fing natürlich sofort an, Mama zu verhören: „Sie haben sich nicht um Ihre Kinder gekümmert. Wo waren Sie denn?“ – „Ich wusste nicht, dass mein Mann im Krankenhaus ist. Ich dachte, meine Kinder sind bei ihrer Tante in guten Händen. Mein Mann wollte mich umbringen. Ich bin abgehauen, weil ich Angst hatte. Ich war mir sicher, dass er den Kindern nichts tun würde, da sich ja auch meine Schwägerin um sie kümmerte. Ich wusste, meinen Jungs würde es gutgehen. Aber erst einmal musste ich mich in Sicherheit bringen.“
Читать дальше