„Der spanische Verband?“ fragte Pater David grollend.
„So ist es“, entgegnete Old Donegal und nickte. „Allerdings fehlen drei Galeonen. Die Freunde werden wohl zugeschlagen haben.“
„Aber es ist ihnen nicht gelungen, den gesamten Verband aufzuhalten“, folgerte Hesekiel Ramsgate düster.
Old Donegal zog die Schultern hoch.
„Es bleibt nur eins“, sagte Karl von Hutten, „sofortige Evakuierung. Wie besprochen.“
Es gab keine andere Möglichkeit. Zügig wurden die Maßnahmen in die Wege geleitet, die während der letzten Besprechung des Bundes der Korsaren bis ins kleinste geplant worden waren.
Arkana und ihre Kriegerinnen und Krieger bezogen die vorgesehenen Verteidigungsstellungen rings um die Insel. Alle anderen, die sich nicht an den Kämpfen beteiligen würden, begaben sich an Bord der „Wappen von Kolberg“, die von Renke Eggens und einem Teil der Crew Arne von Manteuffels geführt wurde. Zu den Evakuierten gehörten Gotlinde, Gunhild, Mary O’Flynn und die Kinder.
Da alle Vorbereitungen rechtzeitig getroffen worden waren, lief die Evakuierung zügig ab. Bereits um zehn Uhr verließen die „Empress“ und die „Wappen“ die Schlangen-Insel und nahmen Kurs auf Coral Island.
Den Vereinbarungen entsprechend, wurde unterdessen auf der Schlangen-Insel der Gefechtsstand bezogen. Hesekiel Ramsgate, Pater David, Karl von Hutten und mehrere Männer aus der Werft-Crew erstiegen zu diesem Zweck das westliche Felsmassiv, das sich in langgezogener Formation von Norden nach Süden erstreckte. Bei dem Gefechtsstand handelte es sich um den höchsten Punkt der Insel, der einen freien Überblick nach allen Himmelsrichtungen ermöglichte. Gleichzeitig waren die Männer durch Felsblöcke und Barrieren, hinter denen sie sich verbergen konnten, vor Blicken von außerhalb der Insel geschützt.
Auch die einzelnen Positionen, die Arkana und ihre Kriegerinnen und Krieger bezogen hatten, waren ähnlich gut vor unerwünschten Blicken abgeschirmt. Wenn sich die Angreifer der Schlangen-Insel näherten, würden sie praktisch keine Menschenseele erblicken.
Stunden verrannen, ohne daß sich etwas tat.
Das änderte sich erst, als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Karl von Hutten, der zu dieser Zeit die Beobachtung übernommen hatte, straffte plötzlich seine Haltung.
„Sie kommen!“ rief er. „Von Westen. Kein Zweifel, es ist der Verband.“
Geduckt pirschten sich die übrigen Männer an die Felsbarrieren heran und riskierten einen vorsichtigen Blick.
„In der Tat“, flüsterte Pater David, „sie erdreisten sich in der Tat, ein Gottesurteil heraufzubeschwören. Denn der Allmächtige wird diese himmelschreiende Ungerechtigkeit nicht zulassen.“
Die übrigen Männer schwiegen. Zu sehr nahm sie das Geschehen in seinen Bann.
Nur die Mastspitzen des Verbandes waren zunächst über der westlichen Kimm zu erkennen. Noch segelten die Kriegsschiffe aus Havanna in Kiellinie.
Kurz darauf fächerten die Galeonen und Karavellen auseinander.
„Jetzt haben sie ihr Ziel erfaßt“, sagte Hesekiel Ramsgate gepreßt.
„Aber sie sollen ihr blaues Wunder erleben“, knurrte Pater David, „so wahr uns Gott helfe.“
In diesem Moment lösten sich die sechs Schaluppen von dem Verband und nahmen Direktkurs auf die Schlangen-Insel. Offenbar waren die Einmaster vorausgeschickt worden.
Durch Zuruf gab Karl von Hutten die Meldung vom Herannahen des Feindes an die nächste Verteidigungsstellung der Schlangenkriegerinnen weiter. Sehr rasch wurde auf diese Weise die alarmierende Nachricht weiterverbreitet, bis auch jene Verteidigungsposten informiert waren, die den anrückenden Verband nicht selbst sehen konnten.
Äußerst vorsichtig verhielten sich die Verteidiger der Schlangen-Insel jetzt. Sie riskierten bestenfalls, ihren Haarschopf über die Deckung hinauszuschieben. Die Hauptaufgabe der Beobachtung oblag ohnehin den Männern im Gefechtsstand.
Mittlerweile schwärmten die sechs Schaluppen aus. Offensichtlich hatten sie Order, die Insel von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Die sechs Kriegsschiffe hatten sich unterdessen halbkreisförmig von Westen nach Süden verteilt und waren mit auf gegeiten Segeln in Warteposition gegangen.
Regungslos verharrten die Männer in sicherer Deckung. Behutsam spähte Karl von Hutten über den zerklüfteten Felsbrocken, den er als Deckung benutzte. Flüsternd teilte er den Freunden mit, was sich außerhalb der Insel tat.
In der Tat umkreisten die Schaluppen das felsige Eiland. Dabei hielten sie ausreichenden Sicherheitsabstand und tasteten sich mit mäßiger Fahrt voran. Etwa eine halbe Stunde dauerte es, bis sich die in vorderster Position segelnde Schaluppe von der Westseite her nach Norden vorgearbeitet hatte.
Dann entdeckten die Spanier an Bord des Einmasters den Felsendom.
Die Schaluppe drehte bei.
Während Karl von Hutten dies schilderte, konnten sich die Männer in ihrem felsigen Versteck ein Grinsen nicht verkneifen – trotz der immer bedrohlicheren Situation, in die sie nun gerieten.
An Bord des Einmasters kriegten die Dons samt und sonders lange Hälse und stierten sich die Augen aus dem Kopf. Zwei von ihnen, die durch Spektive spähten, fingerten aufgeregt herum, offenbar, um die Scharfeinstellung zu verbessern.
Kein Zweifel, daß das, was sie erblickten, ausreichte, um sie buchstäblich aus dem Häuschen zu bringen. Sie konnten den größten Teil der Innenbucht mit ihren Stegen von Norden nach Süden überblicken. Und da war die einladende Passage durch den Felsendom. Offenbar kribbelte es ihnen mächtig in den Fingern, jetzt und auf der Stelle nach dem Rechten zu sehen.
„Wagt es nur“, flüsterte Pater David, „wagt es, und wir werden euch einen glühendheißen Empfang bereiten.“
Aber die Spanier überlegten es sich anders. Unvermittelt drehten sie ab und segelten nach Westen zurück, auf das Flaggschiff zu.
Voller Ungeduld wartete Capitán Don Garcia Cubera, bis der Schaluppenführer über die Jakobsleiter aufgeentert war. Und heftig winkte Cubera ab, als sich der Mann in militärisch strammer Haltung auf dem Achterdeck der „San José“ aufbaute und ebenso stramm salutieren wollte.
„Stehen Sie bequem, Mann“, sagte Cubera. „Reden Sie. Schnell, schnell.“
„Jawohl, Señor Capitán“, sagte der Schaluppenführer ehrerbietig. „Die Insel besteht größtenteils aus Felsen, die von See her nur schwer zugänglich sind. Es gibt aber eine große Innenbucht, die lediglich von der Nordseite her durch einen Felsendom zu erreichen ist. In der Bucht haben wir mehrere Stege und einen Strand gesehen. Ausreichende Liegeplätze für mehrere große Schiffe.“
„Und?“ bellte Cubera. „Was heißt das? Liegen in dieser verdammten Bucht Schiffe oder nicht?“
„Kein einziges, Señor Capitán. Es waren weder Schiffe zu sehen noch irgendeine Menschenseele. Die ganze Insel wirkt wie ausgestorben.“
Eben dies bestätigten kurz darauf auch die übrigen Schaluppenführer, die sich an Bord der „San José“ zur Meldung einfanden. Cubera entließ sie und dachte über das Gehörte nach. Er brauchte nichts zu überstürzen und hatte Zeit, den Angriff in aller Ruhe und wohlüberlegt durchzuführen.
Die Lage war mehr als rätselhaft. Kein einziges Schiff in der Inselbucht – nun, das konnte bedeuten, daß die Piraten ihren Schlupfwinkel aus einer Vorahnung heraus geräumt hatten. Die Stege deuteten letztlich darauf hin, daß es eine Ansiedlung geben mußte, wenn auch nichts Lebendes auf der Insel zu erkennen war.
Die Schaluppenführer hatten auch gemeldet, daß die Innenbucht durch den Felsendom von größeren Schiffen zu erreichen wäre.
Capitán Cubera gab sich einen innerlichen Ruck. Er mußte herausfinden, was diese überaus seltsame Lage zu bedeuten hatte. Kurz entschlossen preite er den Kapitän der Kriegsgaleone „San Gabriel“ an und befahl ihm, durch den Felsendom in die Bucht zu segeln und die Insel aus unmittelbarer Nähe in Augenschein zu nehmen.
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