Nur für einen kurzen Moment war Jorge in Bedrängnis geraten. Im Handumdrehen schafften die beiden Männer es nun, die Schnapphähne niederzustrecken. Es war kein einziger Schuß abgefeuert worden.
„Verschwinden wir schleunigst!“ sagte Raimundo Tejero dennoch. „Wer weiß, wieviel von dem Pack noch in der Nähe schnarcht.“
Sie eilten zu den beiden jungen Frauen, und gemeinsam nahmen sie den Weg nach Süden, wobei sie stets den Schutz von Gebüsch und kleinen Waldstücken nutzten. Längst waren sie sich über ihr Ziel einig. In Santiago de Cuba wollten auch Graciela und Cisca ihre glückliche Zukunft finden – an der Seite der beiden Männer, die sie zu schätzen gelernt hatten. Sie zweifelten nicht an ihrem Glück, dessen Grundlage die gelungene Flucht aus den tödlichen Wirren des Aufstandes in Havanna war.
Das graue Licht des beginnenden Tages kroch durch kleine Fenster, deren Scheiben fast blind waren. Der Raum mit den niedrigen Deckenbalken verlor dadurch wenig von seiner Düsternis.
Der Dielenboden hatte dunkle Flecken von dem, was in der Nacht verschüttet worden war – Bier und Wein vor allem. Auf den Tischen lagen umgekippte Trinkbecher zwischen den Köpfen der Schnarchenden. Auch neben die Stühle und Bänke waren Gestalten gesunken und im Vollrausch eingeschlafen. Durchdringender Mief, vermischt mit dem Geruch verschütteter Getränke, erfüllte die Luft.
Die beiden Männer betraten den Schankraum von den Hinterzimmern her und blieben neben dem Tresen stehen. Gonzalo Bastida stemmte die Fäuste in die Hüften, schnaufte und schüttelte mißbilligend den massigen Kopf. Dann stapfte er los, durch den Gang zwischen den Tischreihen, und es kümmerte ihn nicht, wenn er dabei gelegentlich auf Arme und Beine von Schlafenden trat. Bei den Mengen von Alkohol, die sie geschluckt hatten, spürte ohnehin keiner etwas.
Bastida riß die beiden Riegelbalken der Eingangstür hoch und ließ sie achtlos zu Boden poltern. Eine der Gestalten in der Nähe wurde von einem der Balken an der Schulter getroffen, stöhnte kurz auf und versank sofort wieder in tiefen Schlaf. Bastida öffnete die Tür weit, reckte sein Gesicht dem Tageslicht entgegen und pumpte die frische Luft tief in seine Lungen.
Alonzo de Escobedo, der bei der Theke stehengeblieben war, beobachtete den anderen Mann grinsend. Bastida war ein eiskalter, verfetteter Hundesohn. Ihm gehörte diese Kaschemme, und hier ging alles ein und aus, was auch nur in entferntester Weise das Licht des Tages zu scheuen hatte. Schon als Hafenkommandant hatte de Escobedo eine enge Zusammenarbeit mit dem Kaschemmenwirt gepflegt, wie er es gern nannte. Für den Schutz vor polizeilichen Organen, der ihm von de Escobedo zugesichert und in vollem Umfang gewährleistet worden war, hatte Bastida sich in angemessener Weise erkenntlich gezeigt.
Das harte Wort Schmiergeld mochte de Escobedo in diesem Zusammenhang nicht gern anwenden.
Gonzalo Bastida hatte sich jedoch immer auf ihn verlassen können. Es war eine Zusammenarbeit gewesen, die in den sogenannten normalen Zeiten in Havanna stets hervorragend geklappt hatte. Bastida setzte in seinen Hinterzimmern Diebesgüter um. Die „Nebentätigkeit“ als Hehler brachte ihm wesentlich mehr ein als die Kaschemme.
Andererseits war es jedoch eben diese Schenke, die ihm zu den so wichtigen Kontakten verhalf. Im Laufe der Jahre hatte sich Bastida überdies zum Gebieter über eine bemerkenswerte „Truppe“ hochgearbeitet – Taschendiebe, Einbruchsspezialisten, Falschspieler, Schläger und Mörder.
Geradezu unvorstellbar weit waren die „Fachgebiete“ dieser schrägen Vögel, die entweder auf eigene Rechnung arbeiteten oder von Bastida gezielt eingesetzt wurden. Auf sein Kommando hörten sie so oder so.
Wer mit Gonzalo Bastida zusammenarbeitete, der wußte, daß er eine Zuverlässigkeit gepachtet hatte, die sich mit der Unerschütterlichkeit von Bastidas Leibesumfang vergleichen ließ. Buchstäblich nichts brachte diesen Mann aus dem Gleichgewicht. In der Unterwelt von Havanna war er eine Art ungekrönter König.
Bastida wandte sich bei der Tür um und blinzelte in das Halbdunkel. Mit einer ausladenden Handbewegung wies er in den Raum, in dem das Schnarchkonzert unvermindert anhielt.
„Sieh dir das an, Alonzo. Ist es nicht eindrucksvoll?“
De Escobedo zog die Brauen zusammen.
„Mich widert es eher an.“
„In genau dem Sinne meine ich es auch“, entgegnete Bastida und nickte. „Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie sich eine bestimmte Sorte Mensch an ungeschriebene Gesetze hält.“
„So?“ sagte de Escobedo ohne sonderliches Interesse. Manchmal ging ihm der Dicke damit auf die Nerven, wie er die Leute beobachtete und sie messerscharf durchschaute. Das Unangenehme war, daß Bastida eigentlich immer recht hatte mit dem, was er sagte. Er sprang mit seinen Leuten bisweilen um wie ein allgewaltiger Herrscher, und sie gehorchten ihm aufs Wort. Ohne Murren.
„Allerdings“, sagte Bastida bekräftigend. „Du kannst dir jeden einzelnen von diesen blöden Hurensöhnen herauspicken und wirst bei jedem das Gleiche feststellen. Sie könnten in Villen und Palästen übernachten, aber sie tun es nicht. Sie haben fast ganz Havanna auf den Kopf gestellt und könnten sich aufspielen wie die großen Sieger. Trotzdem ziehen sie sich in diese lächerliche, schäbige Kneipe zurück, als ob es der schönste Ort der Welt wäre. Verstehst du das?“
De Escobedo zog die Schultern hoch.
„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, sagte er brummend. „Das wird es sein.“
Bastida wedelte abwehrend mit der Hand.
„Irrtum, mein Lieber. Das ist es nicht. Die Menschheit teilt sich nach Rangordnungen auf. Es gibt geborene Gewinner und geborene Verlierer.“
Der frühere kommissarische Gouverneur grinste jetzt.
„Dann weiß ich, zu welcher Seite wir beide gehören, Gonzalo.“
„Das will ich meinen.“ Bastida kehrte mit schweren Schritten zur Theke zurück. Kühle Morgenluft breitete sich im Schankraum aus. Bastida lehnte sich mit dem Rücken an und schob die Ellenbogen auf die Theke. „Diese Leute wollen gelenkt werden, Alonzo. Denen würde es überhaupt nicht gefallen, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Die brauchen immer jemanden, der ihnen sagt was sie tun sollen, wo sie es tun sollen und wie sie es tun sollen.“
De Escobedo wischte mit der rechten Hand durch die Luft.
„Du brauchst mir nicht zu erzählen, wie man mit Befehlsempfängern umzugehen hat.“
Bastida lächelte kaum merklich.
Er wußte, daß de Escobedo für gewisse Erkenntnisse nicht über genügend geistige Beweglichkeit verfügte. In gewisser Hinsicht war er ein sturer Kerl. Aber das mußte man ihm nicht unbedingt vorwerfen, wenn man mit ihm zusammenarbeiten wollte.
„Du redest von deiner Zeit als Hafen- und Stadtkommandant?“ sagte der Kaschemmenwirt.
„Allerdings.“ De Escobedo warf stolz den Kopf in den Nacken.
„Dann laß dir gesagt sein, daß du es hier nicht mit Soldaten oder Gardisten zu tun hast, mein Freund. Dieses Lumpenpack will anders angepackt werden.“
„Was du nicht sagst“, entgegnete de Escobedo spöttisch. „Es wäre mir wahrscheinlich schwergefallen, das herauszufinden.“
Gonzalo Bastida antwortete nichts darauf. Er wandte sich ab und bedeutete de Escobedo mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Sie ließen sich auf den Stühlen im ersten Hinterzimmer nieder, von wo sie durch die offene Tür den Schankraum beobachten konnten.
Die Hausgehilfin des beleibten Kaschemmenwirts hatte ein opulentes Frühstück zusammengestellt. Vom gebratenen Schinken bis zu frischen Früchten fehlte es an nichts. Bastida hatte darauf geachtet, welche Sachen aus der umfangreichen Diebesbeute der vergangenen Nächte für ihn abgezweigt wurden.
Bei de Escobedo hatte er indessen den Eindruck, daß dieser in erster Linie Machtgelüste hegte.
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