„Hör mal, Donegal“, sagte Bob Grey, während der Kutscher vorsichtshalber verharrte. „Der Kutscher will dich ja nicht zur Ader lassen oder so. Er will dir auch keine Schröpfköpfe oder Blutegel auf die Haut setzen. Er will dir nur in die Augen sehen, vielleicht auch in den Hals und in die Ohren.“
„In die Ohren?“ fragte Matt Davies. „Wieso, hat er auch Bohnen darin?“
„Maul halten, Matt“, schnauzte der Profos den Mann mit der Eisenhakenprothese an. „Noch so eine Bemerkung, und du verschwindest für vierundzwanzig Stunden im Kabelgatt.“
„Untersuchen!“ wetterte der Alte. „Zustand! Seid ihr verrückt? Ich habe noch nie einen Knochenflicker an mich herangelassen, auch nicht, als ich das Bein verloren hab. Unsereins kuriert so was selber aus. Und außerdem – mir fehlt nichts.“
„Weißt du das?“ fragte Shane. „Es gibt Sachen, die keiner von uns so richtig kapiert. Leiden, die den Geist und die Seele betreffen. Du hast ja keine Ahnung, was mit dir los ist.“
„Was? Willst du behaupten, ich sei – besessen?“
„Mindestens“, sagte Shane respektlos. Er kriegte sich mit dem Alten öfter mal in die Wolle, und meistens lag das an Old O’Flynns Schauermärchen und Wahrsagungen.
„Nimm das zurück, oder ich fahre aus der Haut!“ schrie Old Donegal. Er traf jetzt ernste Anstalten, sich das Holzbein abzuschnallen.
Big Old Shane ließ sich nicht beeindrucken, er war die Ruhe in Person. „Kutscher, wie nennt man das, wenn einer alt und klapprig und nicht mehr ganz richtig im Kopf ist?“
„Nun – er wird senil. Das hat mit der Verdickung im Blut zu tun“, erklärte der Kutscher. Er war sehr stolz darauf, seinem damaligen Brotgeber Doc Freemont immer aufmerksam zugehört zu haben.
Shane grinste. „Bei Donegal muß schon statt des Blutes Lehm durch die Adern rieseln, anders kann ich es mir nicht vorstellen. Es wird immer schlimmer mit ihm.“
Draußen auf dem Gang liefen immer mehr Männer zusammen – Ben Brighton, Ferris Tucker, Smoky, Dan O’Flynn junior und einige andere. Sie blieben vor der offenen Kammertür stehen und schauten sich untereinander, teils besorgt, teils belustigt an. Gab es wirklich eine Keilerei?
Sicherlich wäre Old O’Flynn jetzt mit dem Holzbein auf den Riesen Shane losgegangen, wenn der Seewolf nicht ein Machtwort gesprochen hätte.
„Schluß jetzt“, erklärte er. „Seid ihr nicht bei Trost? Ich dulde keinen Streit. Und das, was du eben gesagt hast, geht über den Rahmen eines Scherzes hinaus, Shane.“
Betreten blickten die Männer zu Boden. Big Old Shane fuhr sich mit der rechten Hand durch das graue Bartgestrüpp und schien angestrengt nachzudenken. Schließlich hob er den Kopf und blickte zu Old O’Flynn.
„Ja“, meinte er. „Also, um ehrlich zu sein, tut es mir leid. Donegal, ich werde nie mehr behaupten, daß du nicht mehr ganz dicht bist.“
Der Alte grinste plötzlich. „Fein, dann sage ich dir natürlich auch nicht, was für ein Hornochse du bist.“
Carberry atmete auf. „Damit wäre der Frieden wohl wiederhergestellt, was? Donegal, du hast uns aber wirklich einen schönen Schreck eingejagt. Als ich das Poltern hörte, dachte ich schon, wir hätten einen blinden Passagier an Bord. Bei dem, was uns in der letzten Zeit so passiert ist …“
„Sollen wir die Frachträume durchsuchen, Sir?“ fragte Matt Davies den Seewolf. „Vorsichtshalber, meine ich.“
„Nicht nötig“, antwortete Ferris Tucker an Hasards Stelle. „Das habe ich eben schon getan. Man kann schließlich nie wissen, was kommt. Wir haben schon Pferde meckern und Ziegen wiehern hören, stimmt’s?“
„Richtig, richtig“, entgegnete Ben Brighton. „Nur in einem Punkt bin ich sicher und muß dir leider widersprechen, Donegal. Die See ist ruhig, und der Wind bläst stetig aus Südwesten. Wenn es nicht aufbrist, kriegen wir heute nacht garantiert keinen Sturm.“
„Wenn es nicht aufbrist …“
„Das ist sehr unwahrscheinlich.“
„Dann stürmt es eben nächste Nacht“, sagte der Alte halsstarrig. „Oder am Tag. Ihr werdet noch die Mäuler und die Augen aufsperren.“
„Schluß der Vorstellung“, sagte Hasard. „Wir haben genug debattiert. Ed, Matt und Bob, ihr kehrt auf eure Posten zurück. Der Rest legt sich aufs Ohr. Ich will am Morgen keinen unausgeschlafenen Haufen an Oberdeck sehen.“
„Aye, aye, Sir“, erwiderten die Männer.
Sie verließen die Kammer. Bevor Hasard die Tür schloß, sah er noch, wie sich Old O’Flynn auf seiner Koje ausstreckte. Er murmelte irgendwelche Worte, wahrscheinlich Flüche. Er fluchte für sein Leben gern und kannte fast noch mehr Kraftausdrücke als Carberry.
Hasard gab Ben Brighton ein Zeichen. Sie traten auf die Kuhl und unternahmen eine Kontrollrunde. Unverändert frisch fiel der Wind aus Südwest ein. Die „Isabella“ lief raumen Kurs und gute Fahrt. Der Seewolf verharrte am Schanzkleid, schaute zunächst außenbords und drehte sich dann zu seinem Bootsmann und ersten Offizier um.
„Langsam fange ich an, mich um Old Donegal zu sorgen“, sagte er.
„Wegen seiner Träume?“ erwiderte Ben Brighton. „Ich glaube ebensowenig wie du daran, daß sie sich bewahrheiten.“
„Natürlich. Und der Umstand, daß sich seine Ahnungen hin und wieder bestätigen, ist selbstverständlich darauf zurückzuführen, daß wir uns immer wieder in Gefahr begeben – zwangsläufig. Etwas anderes wäre es, wenn wir hinter dem Deich liegen und einer geruhsamen Tätigkeit nachgehen würden.“ Der Seewolf stützte beide Hände aufs Schanzkleid. „Ich glaube, Donegal sorgt sich um die Zwillinge, wenn er es auch nicht zugeben will.“
„Immerhin ist er ihr leiblicher Großvater.“
„Er hat Angst, daß man sie uns wegnehmen könnte oder ihnen etwas zustößt.“
Ben hob die Augenbrauen. „Hat er denn nicht selbst dafür gesprochen, daß sie an Bord bleiben und zu handfesten Seeleuten erzogen werden?“
„Ja, aber er würde es sich selbst nicht verzeihen, wenn ihnen etwas passierte. Ich weiß, ich weiß, wir können sie nicht in Watte verpacken und gegen jeden Einfluß von außen schützen. Sie müssen sich selbst behaupten und viel lernen, auch wenn sie erst sieben Jahre alt sind.“
„Bald werden sie acht.“
„Und auch wir werden älter – wolltest du das sagen?“ Hasard lächelte.
Ben mußte auch grinsen. Er schob die Mütze etwas weiter zurück und antwortete: „Nein. Ich will auf etwas anderes hinaus. Gerade die letzten Ereignisse haben bewiesen, daß Philip und Hasard auch schon ganz gut um sich beißen können. Wenn Donegal irgendwie um sie bangt, kann ich ihn natürlich verstehen, aber seine Sorgen sind letzten Endes doch unbegründet.“
Hasard war wieder ernst geworden. „Hoffentlich“, sagte er.
Der Schlaf nahm Old O’Flynn gefangen und entführte ihn sanft, aber wieder waren es keine rosigen, friedlichen Bilder, die vor seinem geistigen Auge Gestalt annahmen.
Eine Nußschale im Sturm – nirgends Land, keine Bucht, kein Schiff, das die Rettung brachte. Verlassen im Tosen des Wetters, einsam, verzweifelt – die Hoffnung war eine weiße Möwe, die über den schäumenden Wogen entschwand, und die Panik hatte ihren freien Lauf.
Er war gefesselt und konnte sich nicht bewegen. Es gab kein Messer, das er zu seiner Befreiung benutzen konnte, und wenn er es gehabt hätte, was hätte es ihm letztlich genutzt, die Taue abzustreifen, die in seine Haut schnitten?
Keine Pistole, mit der er seinem Leben ein Ende bereiten konnte, ehe der nasse Tod nach ihm griff …
Wer war er? Der Seewolf? O’Flynn? Er konnte nicht an sich hinuntersehen, sondern blickte nur über den Bug der Nußschale in das Brodeln der Fluten.
„Seewölfe!“ gellte die Greisenstimme in seinen Ohren. „Dies ist euer Ende! Fahrt zur Hölle, Bastarde, ihr habt es nicht anders verdient! Was glaubtet ihr denn? Mehr zu sein als jeder schmutzige Pirat, der euch auf euren Fahrten begegnet ist? Privilegien zu genießen? Wer steht euch bei, wenn ihr in Not seid? Die Königin? Nein! Keiner will euch, keiner hat euch gerufen! Bastarde sind unerwünscht!“
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