„Jetzt hör aber auf“, sagte der Profos. „Weißt du was? Ich hätte Lust, dich wirklich ein wenig zum Zappeln an die Großrah zu hängen. Es ist eine Sauerei von dir, dich totzustellen.“
„Ich hab mich nicht totgestellt“, begehrte der Alte auf.
„Was dann?“ brüllte Carberry.
„Ich habe geschlafen, und du hast mich mit deinem Gebrüll aufgeweckt!“
„Geschlafen?“ wiederholte der Seewolf. „Hör mal, Donegal, dazu ist aber eigentlich die Koje da.“
Der Alte richtete sich unter den verblüfften, ratlosen Blicken der Männer auf, humpelte zu seiner Koje, setzte sich auf den Rand, begegnete ihrem Blick und erwiderte: „Also schön, ich geb’s ja zu. Ich bin aus der Koje gefallen und auf den Planken gelandet, aber dann war mir so verflixt schlapp und müde zumute, daß ich gleich hier weitergepennt habe.“
„Warum nicht?“ sagte Matt Davies leichthin. „Wenn es so richtig miefig ist, schlafe ich für mein Leben gern an Oberdeck. Auf den Planken. Die sind das wahre Bett des Seemanns.“
„Hör auf!“ fuhr der Profos ihn an. „Daß hier bloß keiner versucht, mich auf den Arm zu nehmen. Ich will wissen, was los ist, Donegal. Warum, zum Teufel, bist du aus deiner elenden Koje gefallen?“
„Regt euch ab“, sagte jetzt der Seewolf. „Wir brauchen nicht herumzudiskutieren. Ich nehme an, Donegal hat mal wieder einen seiner berüchtigten Alpträume gehabt.“
„Alpträume?“ Der Alte fixierte seinen Kapitän, und plötzlich wurde seine Miene steinern. „Das war ein Gesicht, Hasard, ich schwöre es dir.“
„Was hast du denn geträumt?“
„Ich mag es nicht erzählen.“
„Nun mal nicht so zimperlich“, sagte Hasard aufmunternd. „Heraus mit der Sprache, was hat dich so aus dem Häuschen gebracht?“
„Es war eine Vision, wie ich sie noch nicht gehabt habe“, erwiderte der Alte. „So lebendig, so scheußlich nah – o Hölle, wenn ich es doch bloß vergessen könnte! Das war die Fratze des Todes, in ihrer ganzen Häßlichkeit.“
„Und wer war diesmal der Betroffene?“
„Jemand von der ‚Isabella‘.“
„Da haben wir’s“, mischte sich der Profos wieder ein. „Verzeihung, Sir, aber das ist doch wirklich die Höhe. Er beschwert sich darüber, daß man ihn für tot hält, wenn er auf den Planken herumliegt, aber uns Männer der Crew läßt er reihenweise krepieren.“
Old O’Flynn blickte verkniffen drein. „Es ist doch nicht meine Schuld, wenn ich Gesichte habe.“
„Du hast in letzter Zeit verdammt viele dämliche Gesichte, Donegal, und ich sag’s dir ganz ehrlich, du gehst uns mit deiner Spökenkiekerei auf die Nerven“, erklärte Carberry. Zornig schob er sein Rammkinn vor. Das war immer ein schlechtes Zeichen.
Eine wuchtige Gestalt schob sich zu ihnen in die Kammer – Big Old Shane.
„Ist es wieder soweit?“ erkundigte er sich grimmig. „Phantasiert er wieder herum? Es wird Zeit, daß wir den alten Meckerbeutel irgendwo an Land setzen.“
„Du hast hier noch gefehlt“, erwiderte der Alte giftig.
Shane blieb neben dem Seewolf stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten und sagte: „Es wäre alles nicht so schlimm, wenn du nicht auch noch dauernd behaupten würdest, du könntest in die Zukunft sehen.“
„Tue ich das?“
„Ja, und du machst die Leute damit verrückt.“
„Ich habe nur manchmal schlimme Ahnungen“, verteidigte sich der Alte. „Und die haben sich schon oft bewahrheitet. Wollt ihr das abstreiten? Wollt ihr das wirklich leugnen?“
Hasard räusperte sich. „Es gibt Zufälle, oft ein geradezu verblüffendes Zusammentreffen von Dingen. Ich persönlich bezweifle, daß ein Mensch wirklich hellsehen kann. Aber lassen wir das. Donegal, willst du mir jetzt endlich erzählen, was für einen Traum du gehabt hast – und wer darin vorkam?“
„Ja, wenn ihr mich endlich sprechen lassen würdet.“ Old O’Flynns verwittertes Gesicht hatte im Licht der Öllampe große Ähnlichkeit mit einer Maske. „Es ging um dich und die Kinder, Hasard, aber das war nur das Symbol. Man muß die Zeichen zu deuten wissen.“
„Und wie lautet deine Auslegung?“ fragte der Seewolf.
„Wir müssen alle dran glauben. Wir sind erledigt, diesmal wirklich. Zuerst gibt es einen Sturm, und dann segeln wir geradewegs in unser Verderben.“
Sie standen in der Kammer und lauschten dem Bericht des Alten. Am Ende sagte Ed Carberry: „So ein Quatsch. Ich habe auch schon hundertmal geträumt, daß wir abgesoffen sind, besonders, wenn ich was Schweres zu Abend gegessen hatte. Einmal, ich glaube, es war in der Biskaya, war mir im Schlaf sogar so, als wären wir mit der ‚Isabella‘ auf den Strand einer Insel gerauscht. Die Kannibalen krabbelten wie die Ameisen an den Bordwänden hoch und packten uns. Sie hatten Zähne wie Haie, und ich hatte tatsächlich das Gefühl, sie würden sie mir in die Beine schlagen.“
„Hör auf“, sagte Shane. „Das ist ja ekelhaft.“
„Es war aber so …“
„Und dann haben uns die Kannibalen doch nicht erwischt“, erwiderte der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack Castle. „Weder auf Kalimantan noch sonstwo – das wolltest du doch sagen, oder?“
„Ja.“
„Ich weiß schon, auf was ihr hinauswollt“, sagte der Alte finster. „Träume sind Schäume, alles Humbug, nicht wahr? Aber nicht jeder besitzt die Gabe, die Trugbilder zu deuten und eine Vorausschau zu treffen. Du schon gar nicht, Profos.“
„Was willst du damit sagen?“ Carberry reckte sein Kinn noch etwas weiter vor und musterte O’Flynn wie eine Laus, die sich in seine Koje verirrt hat. „Du bist doch auch nicht der Jonas, der hinter den Horizont blikken kann.“
„Hast du vergessen, was nördlich von Formosa war, wie mißtrauisch ich damals war?“
„Ach, Formosa, das ist doch lange vergessen“, sagte Carberry.
„Und der Kommandant do Velho?“
„Der auch. Den sind wir los.“
„Du scheinst dich ja sehr sicher in deiner Haut zu fühlen“, zischte der Alte. „Aber sei bloß nicht zu überheblich. Übermut tut selten gut, verstanden, Profos? Vielleicht bist du der erste, der über die Klinge springt.“
„Sir“, ächzte Carberry. „Ich geb’s auf. Soll er doch denken, was er will. Ich glaube einfach nicht daran, daß wir noch mehr Ärger kriegen, bevor wir die Themse erreichen. Wir sind doch schon an Brighton und Eastbourne vorbei. Die Straße von Dover ist nicht mehr fern.“
„Schon gut, Ed“, sagte der Seewolf. „Wird schon schiefgehen. Ich sehe auch nicht ein, warum wir uns selbst Angst einjagen sollen.“
„Ich auch nicht“, meinte Shane. „Donegal, pack dich wieder in deine Koje und vergiß dein Holzbein nicht. Bis zum Morgengrauen sind noch acht Glasen, wir sollten eine Runde schlafen.“
„Ja, du“, giftete der Alte. „Rede du nur. Du zählst mich ja sowieso zum alten Eisen. Aber du wirst sehen, wie recht ich habe, und dann schütte ich mich aus vor Lachen.“
„Kutscher“, sagte Matt Davies. „Ich schätze, es liegt wirklich am Essen. Hölle, setze uns keine sauren Nieren mehr vor, so wie heute abend. Die liegen zu schwer im Magen.“
Der Kutscher fühlte sich in seiner Ehre als Koch der „Isabella“ berührt.
„Sir, ich stelle hiermit den Antrag, Old O’Flynn untersuchen zu dürfen“, sagte er. „Ich werde den Beweis liefern, daß sein Zustand nichts mit meiner Küche zu tun hat.“
„Wenn Donegal damit einverstanden ist, kannst du von mir aus deines Amtes walten“, entgegnete Hasard. Ein Lächeln konnte er sich dabei nicht verkneifen, denn er wußte schon, was jetzt folgte.
Old O’Flynn sah den Kutscher näher treten. Abwehrend hob er die Hände. „Zustand? Was für ein Zustand? Mir geht es großartig, mir fehlt nichts. Kutscher, du alter Knochenflicker, tu keinen Schritt weiter, oder ich schnall mein Holzbein ab. Ich schwöre dir, daß ich dich damit vertrimme, wenn du mich auch nur antickst, du elender Quacksalber.“
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