„Ihr könnt mich doch hier nicht sterben lassen!“ jammerte das Mädchen.
Juanito entsann sich: Sie war ein hübsches Mädchen. Schwarzhaarig, feurig, mit dunklen Rehaugen. Konnte man ein solches Geschöpf umkommen lassen? Nein, das ging denn wohl doch zu weit.
„Sieh dir doch die Wunde an“, keuchte Pamela. „Sie blutet wie verrückt.“
„Warte“, sagte der Kerl grunzend. „Ich hole eine Lampe. Habt ihr denn kein Licht da unten, ihr Dummköpfe?“
„Das Öl ist uns ausgegangen“, sagte Domingo Calafuria.
Juanito holte die Öllampe, die an einem Eisenhaken unter dem Mittelbalken der Decke hin und her schwang, verband sie mit einem Tau und fierte sie in das Kellerverlies ab. Er beugte sich etwas hinunter, um Näheres erkennen zu können. Vorerst sah er nur die verkrümmte Gestalt des Mädchens auf einem der Lager.
Etwas Spitzes, Scharfes traf Juanitos Hals, jäh und völlig unversehens. Rodrigo hatte mit seinem Messer zugestochen. Die ganze Zeit über hatte er unter der Kellerluke gelauert, neben der Stiege. Halt fand er dort nur an zwei dicken Eisennägeln, die aus dem Mauerwerk ragten. Doch die genügten dem jungen Mann. Rodrigo war schlank und gewandt wie eine Katze. Und er war von dem Wunsch beseelt, wenigstens einen dieser Teufel umzubringen.
Die Öllampe fiel in den Keller und kippte um. Domingo eilte zur Stiege und stieg hoch. Pamela griff nach der Lampe und richtete sie wieder auf. Ihre Mutter wischte das verschüttete Öl auf, damit es ja nicht Feuer fing.
Juanito, der Pirat, wollte auf den Gegner feuern, doch das Messer hatte seine Halsschlagader getroffen. Die Kräfte verließen ihn. Die Pistole entglitt seinen schlaffen Fingern.
Domingo Calafuria fing sie auf. Rodrigo packte Juanito mit einer Hand und zerrte ihn nach unten. Der Pirat kippte ab und stürzte hart und mit einem dumpfen Laut auf den Kellerboden.
Asuncion Calafuria und ihre Tochter wichen rechtzeitig zur Seite. Ohne Mitleid blickten sie auf den Galgenvogel. Juanito schien noch etwas sagen zu wollen. Aber sein Kopf ruckte zur Seite. Blicklos waren seine Augen jetzt zur Luke gerichtet, wo Rodrigo blitzschnell nach oben enterte und sich in der Hütte umschaute.
Kein anderer Feind war zu sehen.
Die erste Partie in dem gefährlichen Spiel um Tod und Leben war gewonnen.
Hasard und seine Mannen hatten sich im Laderaum der schwankenden Schebecke versammelt. An Oberdeck hielten Bill und weitere drei Kameraden Wache. Immerhin war damit zu rechnen, daß eventuell auftauchende Schnapphähne es sich in den Kopf setzten, das Schiff anzugreifen. Vorläufig aber blieb alles ruhig.
Der Seewolf hatte die improvisierten Instandsetzungsarbeiten kontrolliert, die von Ferris und dessen Helfern vorgenommen worden waren. Die Lecks waren einigermaßen gut abgedichtet, es mußte nur noch alle zwei bis drei Glasen gelenzt werden. Sinken konnte die Schebecke nicht – was weiter geschah, würde sich nach Hellwerden finden.
Hasard spendierte ein Fäßchen Rum. Die Becher wurden gefüllt, die Mannen tranken. Sie ließen ihren Kapitän hochleben, und sie gratulierten sich selbst dazu, daß sie dem Teufel noch einmal von der Schippe gesprungen waren.
„Das war wirklich knapp“, sagte Ben Brighton. „Die Schebecke ist ein solides Schiff, aber diesem Sturm hätte sie nicht standgehalten.“
„Man sollte das Mittelmeer nicht unterschätzen“, sagte Big Old Shane. „Schon viele haben es für einen Ententeich gehalten. Aber diese See kann höllisch tückisch und gefährlich sein.“
Carberry lachte grollend. „Ich habe früher mal so gedacht, Shane. Aber dann haben wir alle den Gänsetümpel ja so richtig kennengelernt. Und ob der’s in sich hat!“
„Dabei haben wir es wirklich nicht mehr weit bis zur Meerenge von Gibraltar“, sagte Blacky. „Aber die Wasserdämonen scheinen was dagegen zu haben, daß wir England so bald wie möglich erreichen.“
„Meinst du das ernst, oder ist das wieder so ein blöder Witz?“ zischte Old O’Flynn.
„Es ist mein voller Ernst“, erwiderte Blacky.
„Jedenfalls können wir auch im Atlantik noch auf einiges gefaßt sein“, sagte Hasard. „Um diese Jahreszeit toben da auch die übelsten Stürme. Und vergeßt nicht, daß wir durch die Biskaya müssen.“
„Daran denke ich ständig“, sagte Ferris grinsend. „Nun ja, unser Schiffchen wird auf eine harte Probe gestellt, wenn das so weitergeht. Aber das soll wohl so sein.“
„Seid mal still“, sagte Old O’Flynn plötzlich. „Hört ihr das?“
„Klar“, entgegnete Roger Brighton. „Der Wind pfeift, und die Wogen rauschen. Was anderes hören wir ja seit Stunden nicht mehr.“
„Das meine ich nicht“, sagte der Alte.
„Sondern?“ fragte Shane.
Old O’Flynn schnitt eine verkniffene Miene. „Wenn ihr mich ausreden laßt und nicht dauernd unterbrecht – zur Hölle, das waren Schüsse! Musketenschüsse! Nicht weit von hier!“
„Unsinn“, sagte Smoky. „Ich habe nichts mitgekriegt.“
„Dann solltest du deine Löffel mal vom Kutscher untersuchen lassen“, sagte der Alte giftig.
Smoky leerte seine Muck und grinste spöttisch. „Das hast du ja wohl noch nötiger als ich.“
„Meine Ohren funktionieren bestens“, sagte Old O’Flynn.
„Bist du sicher, Donegal? Ich habe auch keine Schüsse gehört“, sagte der Seewolf.
„Ich auch nicht“, pflichtete Ben ihm bei.
Auch die anderen Mannen hatten nichts vernommen.
„Aus welcher Richtung hörtest du die Schüsse?“ wollte Dan O’Flynn von seinem Vater wissen.
„Von Westen.“
„Ich frage mal die Posten, ob sie was bemerkt haben“, sagte Ben.
Er enterte nach oben und rief Bill und den anderen ein paar Worte zu. Bill antwortete. Was er schrie, war unten nicht zu verstehen.
Ben kehrte zu den Kameraden im Laderaum zurück.
„Die Wachen haben nichts gehört“, erklärte er.
„Ich bin aber ganz sicher“, beharrte der Alte. „Das waren Schüsse.“
„Vielleicht war’s ’ne Vision“, meinte Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia.
„Paßt mal gut auf“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn ernst. „Ich bin nach wie vor ganz richtig im Kopf, und ich habe noch alle Tassen dort, wo sie hingehören. Also, unterlaßt diese Anspielungen, klar?“
Der Kutscher griff ein.
„Du hast Batuti mißverstanden“, sagte er. „Du weißt doch, in Gambia glauben die Menschen an Magie. Batuti meint, es könnte sich um eins deiner Gesichter handeln.“
„Nein, es ist Tatsache.“
„Wir warten erst einmal ab“, sagte der Seewolf einlenkend. „Heute nacht können wir sowieso nichts unternehmen, Donegal. Ich werde den Teufel tun und jetzt einen Trupp an Land schicken, der die Küste abforscht.“
„Das würde ich auch nicht tun“, sagte der Alte. „Angenommen, es handelt sich bei den Musketenschützen um Schnapphähne. Wir würden ihnen glatt in die Arme laufen.“
„Morgen früh sehen wir weiter“, sagte der Seewolf. „Wir suchen den Strand ab. Vielleicht finden wir noch Spuren.“
„Wenn der Sturm nicht alles fortgeblasen hat“, wandte Stenmark ein.
„Schon möglich“, erwiderte Hasard. „Wir werden sehen.“
„Wer ist so blöd und ballert mitten in der Nacht in der Gegend herum, dazu noch bei schwerem Wetter?“ fragte Paddy Rogers. Es war bekannt, daß er nicht der schnellste Denker war.
„Piraten“, erwiderte sein bester Freund Jack Finnegan.
„Welchen Grund sollten sie dazu haben?“ fragte Paddy.
„Na, sie könnten beispielsweise auf Beute gestoßen sein“, meinte Higgy. „Arme Teufel, die in Seenot geraten sind und in einer Bucht Schutz suchen.“
„Pfui“, sagte Paddy. „So eine Gemeinheit.“
„Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein“, sagte Hasard. „Ben, schick noch zwei Wachen nach oben. Alle sechs sollen die Augen und Ohren offenhalten. Um vier Uhr werden sie abgelöst, und um acht Uhr ist wieder Wachwechsel.“
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