Wie von Sinnen brach La Menthe durch das offene Tor in sein Anwesen ein und sah Zorzo, der gerade im Begriff war, die Lunte auf das Bodenstück des Falkonetts zu senken.
„Du Kanaille!“ schrie er ihn an. „Du willst mir alles zerstören? Wer bist du? Wer hat dich geschickt? Ich töte dich!“
Seine Schußwaffen hatte er auf dem Plateau leergefeuert und inzwischen nicht mehr nachladen können. Deshalb zückte er das Messer, das in seinem Gurt steckte, und stürzte sich damit auf den Italiener, der entsetzt zu ihm herumfuhr und eine abwehrende Haltung einnahm.
Hasard überbrückte mit den letzten Schritten den Abstand, der noch zwischen ihm und dem Tor lag.
Die Senegalesen hatten die Tür des Sklavenhauses erreicht und warfen sich dagegen. Die Tür flog auf, und jetzt sahen sie sich einer haarsträubenden Situation gegenüber: Lodovisi, Prevost und die drei anderen Meuterer der „Novara“ hatten sich fünf der sechs Frauen gepackt und hielten sie als Schutz vor sich fest.
Wie gelähmt standen die schwarzen Männer, die ausnahmslos Musketen in den Fäusten hielten, plötzlich da.
Die sechste Frau sprang jedoch plötzlich Lodovisi von hinten an und drückte ihm die Fingerspitzen in die Augen. Der Ex-Profos brüllte auf, ließ seine Geisel los, und diese warf sich todesmutig auf Prevost.
Im Nu war ein Handgemenge entbrannt, in dessen Verlauf einer der schwarzen Männer Prevost niederschoß, indem er ihm die Mündung seiner Muskete gegen die Körperseite hielt und abdrückte.
La Menthe hatte Zorzo zwei Messerstiche beigebracht, doch Zorzo legte ihm eine Hand an die Gurgel, drückte zu und versuchte gleichzeitig, den Gegner zurückzudrängen. Mit der anderen Hand hielt er immer noch die glimmende Lunte.
Sie gingen zu Boden und wälzten sich keuchend. Die Zündschnur geriet der Lunte der einen Flaschenbombe, die La Menthe nach wie vor an seinem Gurt trug, bedrohlich nahe.
Der Seewolf war unter dem Torbogen, erfaßte die Lage mit einem Blick und stürzte zu den beiden Männern, um sie voneinander zu trennen. Er prallte jedoch zurück, denn der Glatzkopf hackte wie wahnsinnig mit dem Messer auf ihn ein und verletzte seinen linken Arm.
Die Wunde brannte wie Feuer. Hasard fluchte, fing sich wieder und wollte erneut eingreifen, doch jetzt sah er, daß die Lunte der Flaschenbombe an La Menthes Gürtel zu glimmen begonnen hatte.
Es war keine sehr lange Lunte.
„La Menthe!“ stieß Hasard entsetzt hervor. „Die Bombe! Um Himmels willen, lösch die Lunte!“
La Menthe hörte nicht auf ihn. Er war wie besessen von dem Gedanken, den Italiener zu töten. In seinem an Wahn grenzenden Haß hielt er Zorzo für Hasards Verbündeten und glaubte an ein großanlegtes Komplott, an eine Invasion auf Martinique, an deren Ende die Zerstörung all dessen stand, was er, der Herrscher, aufgebaut und eifersüchtig gehütet hatte.
Lodovisi floh aus dem Sklavenhaus, in dem die Senegalesen inzwischen auch seine anderen Kumpane überwältigt hatten. Er hastete zum Waffendepot, riß in aller Hast zwei Musketen an sich und kehrte auf den großen freien Platz zurück.
Hasard lief auf ihn zu.
„Halt! Stehenbleiben!“ schrie er, dann legte er mit dem Radschloß-Drehling auf den bärtigen Mann an. „Laß die Waffen fallen!“
Lodovisi ließ die eine Muskete sinken, weil sie ihn nur behinderte. Mit der anderen zielte er auf Hasard und drückte ab.
Der Seewolf ließ sich fallen und überrollte sich auf dem staubigen Boden. Knapp ging die für ihn bestimmte Kugel an ihm vorbei, dann schoß auch er.
Roi Lodovisi taumelte rückwärts, die leergeschossene Muskete entglitt seinen schlaff werdenden Händen. Er hatte ein häßliches Loch in der Stirn, seine Züge waren zu einer fragenden, verständnislosen Grimasse verzerrt.
Die schwarzen Männer verließen das Sklavenhaus. Einige wollten mit ihren Beutewaffen auf den Seewolf anlegen, doch die, die auf dem Bergpfad vor La Menthe und Duplessis geflohen waren, hielten sie zurück.
Sie erkannten den Mann, der ihnen mit seinen Kameraden zusammen zur Befreiung verholfen hatte, wieder.
La Menthe schrie etwas, das Hasard nicht verstand, dann explodierte die Flaschenbombe und zündete auch die Ladung der zweiten Flasche an seinem Gurt.
Hoch stiegen Feuer und Rauch vor der weißen Mauer auf, die Heftigkeit der Detonation ließ den Boden erzittern. Das Falkonett kippte um, im Donner der doppelten Sprengung glaubte Hasard die beiden Männer noch einmal aufschreien zu hören. Er preßte sich flach auf den Boden und ließ die Druckwelle über sich wegstreichen. Danach richtete er sich auf, drehte sich um und sah im Schein der Lampen, die die Senegalesen jetzt herantrugen, einen dunklen Fleck an der weißen Mauer.
La Menthe und Mario Zorzo waren wie vom Erdboden ausgelöscht, von ihren sterblichen Überresten war nichts mehr zu sehen.
Im Tor erschienen die Gestalten von Dan, Shane, Carberry, Sam, Luke, Ferris Tucker und Old O’Flynn. Sie waren ihrem Kapitän vom Plateau aus nachgeeilt, um ihn bei seinem Vorhaben, La Menthe zu stoppen, zu unterstützen.
„Es gibt nichts mehr zu tun“, sagte der Seewolf. „Wo sind die anderen – Bill, Bob, Matt, Batuti, Stenmark und Jeff?“
„Zurück zur ‚Isabella‘“, erklärte Ferris Tucker, der sich verdutzt umschaute. „Sie sollen Ben Brighton berichten, was vorgefallen ist.“
„Gut“, sagte Hasard. „Und wir lassen uns von den Schwarzen jetzt zum Ostufer führen. Ich schätze, sie kennen den Weg, der dorthin führt. Wenn mich nicht alles täuscht, wartet dort noch eine Aufgabe auf uns.“
Fosco Sampiero stand dem Seewolf auf der Landzunge des östlichen Ufers gegenüber, als der nahezu volle Mond sein weißliches Licht über die Insel Martinique ausgoß. Die anderen Überlebenden des Untergangs der „Novara“ umringten sie, und auch die Seewölfe und die Senegalesen hatten sich mit zu der Runde gesellt, die beinah andächtig dem von Hasard auf spanisch geführten Bericht über die blutigen Vorfälle gelauscht hatte.
Sampiero streckte die Hand aus. Hasard ergriff sie und drückte sie fest.
„Ich danke Ihnen von Herzen, Signor Killigrew“, sagte der Mann aus Genua. „Sie haben uns vor einem großen Unheil bewahrt. Dieser La Menthe hätte uns zweifellos überfallen, wie er auch Sie und Ihre Männer getötet hätte.“
„Ja. Er war von seiner Selbstherrlichkeit verblendet und schreckte vor keiner Grausamkeit zurück. Sein Tod hat Martinique von einer Geißel befreit.“
„Und Sie haben uns die Arbeit abgenommen, die Meuterer zu bestrafen“, sagte Sampiero.
„Sie haben sich selbst ihr Grab geschaufelt.“
„Werden Sie noch eine Weile bei uns bleiben, Signor Killigrew?“ wollte Bianca Sampiero wissen.
„Nein. Wir gehen im Morgengrauen wieder in See. Wir werden noch heute nacht die Wasserfässer füllen und an Bord mannen.“
„Ich denke, wir werden auf dieser Insel leben können, bis ein Schiff aufkreuzt, das uns aufnimmt und zurück in die Heimat bringt“, sagte der Kapitän der „Novara“. „Und wir werden auch mit diesen Männern und Frauen aus Afrika auskommen, das verspreche ich Ihnen. Aber wie steht es mit der Vulkantätigkeit auf Martinique?“
„Die Krater sind vorläufig erloschen. Das haben unsere schwarzen Freunde uns erzählt“, erklärte Hasard lächelnd. „Sie sprechen recht gut französisch. Sie werden sich mit ihnen unterhalten können.“
„Martinique ist also doch nicht so gefährlich, wie man allgemein annimmt“, sagte Emilio Venturi, der Erste Offizier. „Aber vielleicht sind wir gut beraten, wenn wir es nicht weitererzählen, sondern als unser Geheimnis hüten.“
„Ja. So bleibt ein Paradies bestehen“, erwiderte der Seewolf. „Denn diese Insel kann ein Paradies sein, dessen bin ich sicher. Es hängt von Ihnen ab, Señores.“
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