Blacky schluckte, begriff dann, daß er aufgezogen wurde, und schoß dem grinsenden Alten einen giftigen Blick zu. Ed Carberry stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Wenn wir einem Wassermann begegnen, werden wir ihn am Schwanz ziehen“, versprach er. „Und jetzt Tempo, ihr lahmen Decksaffen! Glaubt ihr, heute sei Weihnachten, was, wie? Bewegt euch! Beiboot abfieren, aber ein bißchen flott, sonst mach ich euch Feuer unterm Hemd, ihr schlafmützigen, von einer Seekuh im Suff gezeugten Mondkälber!“
Ed Carberry fluchte noch, als die Männer das Beiboot längst im Rekordtempo aufs Wasser gebracht hatten. Sie enterten über die Jakobsleiter ab, nicht ohne sich vorher mit Waffen und Munition versorgt zu haben. Ed Carberry hatte sich zur Abwechslung Batutis fürchterlichen Morgenstern an den Gürtel gehängt. Und die Art, wie er sein Rammkinn vorschob und mit den Zähnen mahlte, verriet deutlich, daß er entschlossen war, das Ding notfalls dem Teufel persönlich um die Ohren zu hauen.
Das Boot wurde sorgfältig an Land gezogen, neben das zweite Fahrzeug, das Hasard und seine Gruppe zurückgelassen hatten.
Genau wie der Seewolf entschied sich auch Ed Carberry dafür, die Insel zunächst einmal zu umrunden, Spuren zu suchen und vielleicht einen bequemen Aufstieg zum höchsten Punkt des Eilands zu finden. Aber der Profos rechnete von vornherein mit Verdruß. Vielleicht war auch ein bißchen zu viel von „Verschwinden“ und „nicht mit rechten Dingen zugehen“ gesprochen worden.
Ed Carberry teilte den Trupp. Er selbst, Blacky und Jeff Bowie marschierten los. Sam Roscill und Luke Morgen sicherten nach hinten, bis sie dann, von den anderen gedeckt, wieder aufholten. Auf diese Art ging das Unternehmen zwar etwas langsam vorwärts, aber auf jeden Fall wurde eventuellen Angreifern nicht die Möglichkeit geboten, den jeweils letzten Mann der Gruppe lautlos auszuschalten.
Lediglich das Felsengewirr der östlichen Landzunge überkletterten sie ohne diese Vorsichtsmaßnahme. An der Steilküste im Norden, marschierten sie jeweils dann gemeinsam, wenn es galt, vorspringende Klippen zu umrunden, die den Sichtkontakt hätten abreißen lassen.
Kein Wort fiel – bis sie zum drittenmal, vorsichtig auf der geröllbedeckten Brandungsplatte, an einer vorspringenden Felsennase vorbeiturnten.
Ed Carberry prallte zurück.
„Verflucht!“ flüsterte er nur.
Und auch die anderen blieben wie versteinert stehen und starrten auf das gespenstische Bild vor ihren Augen.
Ein Dutzend Schritte weiter befanden sich zwei einzelne übermannshohe Klippen, nicht weiter als eine Armspanne voneinander entfernt.
Jemand hatte einen angeschwemmten Balken quer über die beiden Felsen gelegt, einen Balken, der als provisorischer Galgen diente – und an dem eine ausgemergelte Gestalt mit kahlem Schädel baumelte.
Der Irre!
Der Schiffbrüchige, der zusammen mit Dan und Batuti von der „Isabella“ verschwunden war.
Das umgestürzte Fäßchen lag noch vor seinen Füßen. Der fachmännische Henkersknoten hatte ihm das Genick gebrochen.
Dan O’Flynns gefesselte Hände umklammerten den Stein, den er nach längeren Anstrengungen in seinem Rücken ertastet hatte.
Sein Blick hing an den Wachtposten. Diesmal war es der einäugige Esmeraldo, der schlapp wie ein ausgewrungener Lappen in der Nähe der Feuerstelle hockte, immer noch etwas grün im Gesicht.
Pepe le Moco kauerte hoch oben zwischen den Felsen und lauschte gespannt in die Stille. Inzwischen war ein dritter Mann zu ihnen gestoßen, der graubärtige Alte mit dem Namen Valerio. Er hatte den beiden anderen mit triumphierender Stimme erzählt, was passiert war – und für Dan und Batuti bedeuteten die wenigen Worte das Ende ihrer Hoffnungen.
Offenbar war eine Gruppe ihrer Kameraden an Land gegangen, um nach ihnen zu suchen, und von den Piraten im Handstreich überwältigt worden. Jetzt warteten die Kerle in aller Ruhe darauf, daß sich etwas tat. Irgendwann würde der Rest der Crew auf der „Isabella“ mißtrauisch werden und vielleicht einen weiteren Suchtrupp losschicken – und dann brauchten die Piraten nicht einmal mehr zu kämpfen.
Sie hatten Dan und Batuti nur deshalb nicht als Geiseln benutzt, weil sie immer noch glaubten, die beiden seien heimlich von Bord abgehauen und die anderen würden nicht viel Rücksicht auf ihr Leben nehmen. Jetzt sah das anders aus. Wenn es ihnen gelungen war, eine Gruppe von den Seewölfen gefangenzunehmen, hatten sie die Möglichkeit, sie als Faustpfand zu benutzen und den Rest der Crew zur Aufgabe zu zwingen.
Dan biß sich verzweifelt auf die Lippen.
Er hatte einen wachen Verstand, und er wußte, daß es sinnlos war, sich etwas vorzumachen. Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß es den Piraten tatsächlich gelingen würde, sich die „Isabella“ unter den Nagel zu reißen.
Dan und Batuti hatten jetzt auch keine Chance mehr, sich von den Fesseln zu befreien: erstens waren sie noch gründlicher verschnürt worden als vorher, zweitens paßten ihre Gegner besser auf. Die beiden Gefangenen hätten höchstens riskiert, daß sie von neuem bewußtlos geschlagen wurden – und das wäre dann das endgültige Aus gewesen.
Die Piraten wollten sie mitnehmen.
Nach Chiapas, ins Land der Mayas!
Dan wußte, daß es jetzt nur noch um eins ging: eine Möglichkeit zu finden, ihren Kameraden irgendwie das Ziel der Piraten mitzuteilen. Denn Hasard und die anderen würden ganz sicher nicht lange auf der Insel festsitzen. Der Schwarze Segler war in der Nähe. Siri-Tong und der Wikinger würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihre Freunde zu finden.
„Batuti“, murmelte Dan fast unhörbar.
„Ja?“
„Kannst du dich aufrecht hinsetzen?“
„Bin ich Tattergreis? Batuti kann Kopfstand machen, wenn sein muß.“
„Bloß nicht! Hör zu, ich will versuchen, eine Nachricht für Hasard in den Felsen zu ritzen. Wir lehnen uns unauffällig an den Stein da drüben. Und du setzt dich so, daß du meine Hände verdeckst, klar?“
Der schwarze Herkules nickte nur und ließ die Augen rollen. Sie brauchten ein paar Sekunden, um sich langsam und unauffällig näher an die Felsen zu schieben. Batuti richtete sich auf und lehnte sich mit der Schulter dagegen. Dan suchte eine Position, in der er mit dem Stein in seinen Fäusten die glatte Wand hinter sich erreichen konnte.
Der einäugige Esmeraldo warf ihnen ab und zu einen flüchtigen Blick zu, aber er schien nichts Verdächtiges an ihrem Verhalten zu finden.
Dan biß sich auf die Lippen. „Chiapas“, wollte er in den Felsen ritzen. Das war ein einziges kurzes Wort, aber nach ein paar Minuten mußte er einsehen, daß er sich die Sache bei weitem zu einfach vorgestellt hatte.
Der Stein in seinen gefesselten Händen und der Felsen in seinem Rücken wiesen ungefähr den gleichen Härtegrad auf. Dan mußte höllisch aufpassen, um nicht ständig abzurutschen und lediglich ein Gewirr von Linien zustande zu bringen. Nach den ersten drei Buchstaben lief ihm der Schweiß in Strömen über den Körper.
Beim Querstrich des A zerbröckelte ihm der Stein unter den Fingern, und er mußte einen neuen suchen. Er brauchte eine volle Viertelstunde für das eine läppische Wort, und als er sich schließlich umdrehte, um sein Werk zu begutachten, stellte er fest, daß man schon sehr genau hinsehen mußte, um die Buchstaben als „Chiapas“ zu entziffern.
Einerseits ganz gut so, denn auf diese Weise wurde die Gefahr geringer, daß die Piraten die eingeritzten Schriftzeichen bemerkten und dann zerkratzten.
Aber würden Hasard und die anderen die Nachricht entdecken? Bestimmt, entschied Dan. Denn sie würden sicher annehmen, daß die beiden Gefangenen eine Nachricht für sie zurückgelassen hatten und ganz gezielt danach suchen.
Batuti grinste zufrieden und ließ seine Zähne blitzen.
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