Die Vorräte eines Eingeborenen-Dorfes, mittels schwerer Schiffsgeschütze erobert, waren leichte Beute.
Da Carrilho sah zu, wie die Beiboote ins Wasser klatschten und seine Leute an Land pullten. Der Strand war leer, im undurchdringlichen Dickicht rührte sich nichts mehr. Das Papua-Dorf lag an einer der wenigen menschlicher Besiedlung günstigen Stellen, einer trockenen Erhebung, die sich keilförmig aus dem Landinneren durch die Sümpfe bis zum Meer hinzog. Die Eingeborenen ernährten sich von Fischfang und Jagd, sie brauchten die Nähe der See. Jahrhundertelang hatten sie hier friedlich gelebt. Erst in jüngster Zeit zeigte der Standort ihres Dorfes Nachteile: es war schutzlos jedem Piratengesindel ausgeliefert. Nur ihre Boote hatten die Papuas sicher versteckt, außerhalb des Schußfeldes der „Dona Felipa“. Aber primitive Eingeborenen-Boote waren ohnehin nicht die Art von Beute, auf die es da Carrilhos Schnapphähne und Halsabschneider abgesehen hatten.
Wie eine Horde Vandalen fielen sie in dem zerstörten Dorf ein.
Sechs Mann richteten ihre Musketen auf den Waldrand und hielten Wache. Die anderen durchstöberten die Trümmer, zerstörten vollends, was noch heilgeblieben war, und rafften alles zusammen, was sie irgend gebrauchen konnten. Achtlos stiegen sie über Tote und Sterbende hinweg. Der Überfall hatte Dutzende von Opfern gekostet. Für diejenigen, die nicht von ihren Stammesgenossen mitgenommen worden waren, gab es keinen Pardon. Die Plünderer wußten zu genau, daß der Haß auch einen Schwerverwundeten befähigen konnte, seinem Todfeind noch mit letzter Kraft einen Speer in den Leib zu jagen.
Lästerliche Flüche ertönten, als die magere Ausbeute in die Boote verfrachtet wurde.
„Hol der Teufel diese armseligen Schlucker!“ schimpfte der knebelbärtige Steuermann der „Dona Felipa“ – ungerührt von der Tatsache, daß die Papuas bestimmt nicht in Armut lebten, um räubernde Piraten zu ärgern. „Drecksgegend! Los, anzünden den ganzen Plunder!“
Unter Gejohle setzten die Kerle auch noch die Trümmer in Brand.
Flammen züngelten, Rauchfahnen stiegen in den blauen Himmel. Binnen Minuten verwandelte sich der Platz am Strand in eine lodernde Hölle. Die Piraten in ihren Booten grinsten wild und schrien triumphierend durcheinander, als hätten sie tatsächlich eine Festung gestürmt und Heldentaten vollbracht.
Tief im Schatten des Mangroven-Dickichts kauerten nackte braunhäutige Gestalten und starrten mit haßglühenden Augen aufs Meer hinaus.
„Scheiße!“ krähte jemand laut und deutlich. „Scheiße! Chinese, du Hackfleisch!“
„Hihi!“ kicherte der kleine Philip und blickte dem roten Ara-Papagei Sir John entgegen, der im Gleitflug aus der schmalen Schlucht segelte, in der vorhin Smoky verschwunden war.
„Du schlecht erzogen, Sir John!“ erklärte der kleine Hasard ernsthaft.
Der Vogel ließ sich auf einem Zweig nieder, an dem blaue Blütendolden hingen.
„Was willst du Stint?“ kreischte er.
Und dann, in einem völlig anderen, leicht singenden Tonfall: „Umdrehen! Engländer! Hilo Palmeiro! Hilo Palmeiro …“
Die Zwillinge wechselten einen Blick.
„Vogel verrückt“, meinte Hasard junior.
„Hmm“, äußerte sich Philip junior und legte den Zeigefinger an die Nase. „Klingt aber nach einer fremden Stimme, eh? Und woher kennt der Vogel den Namen Hilo Pal-Paldingsda?“
„Palmeiro!“ krähte Sir John. „Hilo Palmeiro Lochstickerei!“
Hasard runzelte die Stirn. „Was ist denn das – Lochstickerei?“
„Weiß ich nicht. Aber Loch ist nie gut. Und Palmeiro klingt spanisch.“
„Da hast du recht, beim Scheitan“, sagte Hasard.
Die Zwillinge, bis zu ihrem siebenten Lebensjahr im Orient aufgewachsen, verwendeten zwar auch untereinander die englische Sprache, aber der Scheitan blieb nun mal der Scheitan und war dem Teufel, Satan, Beelzebub und Konsorten natürlich haushoch überlegen.
„Schauen wir mal nach?“ fragte Philip.
„Ja. Aber leise“, stimmte Hasard zu.
Auf Zehenspitzen setzten sie sich in Bewegung.
Für zwei schlanke, biegsame Bürschchen, die zudem noch eine akrobatische Ausbildung hinter sich hatten, war es nicht schwer, sich lautlos durch das Dickicht zu schlängeln. Minuten später erreichten sie steiniges Gelände, das nur noch dem wilden Gras Nahrung bot. Genau wie vorher Smoky hörten sie das Plätschern und Murmeln der Quelle. Als sie sich vorsichtig hinter einem Felsblock aufrichteten, begannen sie zu begreifen, wieso von „Scheiße“, „Hackfleisch“ und einem gewissen Hilo Palmeiro die Rede gewesen war.
Der Träger dieses Namens fuchtelte dem Decksältesten der „Isabella“ mit einer schweren Steinschloß-Pistole vor der Nase herum.
Smoky hatte die Stirn gefurcht, das Kinn vorgereckt, die Hände geballt und die Augen zu schmalen, gefährlich funkelnden Schlitzen zusammengekniffen. Die Zwillinge fanden, daß er furchterregend genug aussah, um ein halbes Dutzend Männer vom Kaliber Hilo Palmeiros in die Flucht zu jagen. Der wirkte denn auch ziemlich fahl – etwa wie ein Kurzsichtiger, der eine Hauskatze treten wollte und versehentlich einen Tiger erwischte.
„Schön ruhig, du Chinese!“ fauchte er. „Wen ich mit Lochstickerei verziere, der steht nämlich bestimmt nicht wieder auf.“
„Versuch’s doch, du Kanalratte“, knirschte Smoky. „Ein Schuß, und du hast die ganze Crew auf dem Hals. Die werden dich kielholen, kalfatern, vierteilen und an die Rahnock knüpfen – in dieser Reihenfolge.“
Der Unbekannte lachte böse.
Philip und Hasard wechselten einen weiteren Blick. Die Sache mit dem Chinesen und der Lochstickerei kapierten sie zwar immer noch nicht, aber sonst war die Situation so klar wie der Himmel nach einem handfesten Sturm.
„Hauen wir ihm was auf die Nase, oder schmeißen wir ihm was an die Rübe?“ fragte Hasard flüsternd.
„An die Rübe“, entschied Philip. „Sonst macht er doch noch Lochstikkerei.“
Dabei tastete er bereits nach einem handlichen Stein, nahm kurz und konzentriert Maß und schleuderte das Geschoß.
Ein perfekter Wurf.
Locker aus dem Handgelenk, nicht zu lasch, nicht zu wuchtig, genau mit dem Schwung, bei dem das Bewußtsein, aber nicht der Schädelknochen zum Teufel geht.
Hilo Palmeiro wurde seitlich am Kopf getroffen. Reflexhaft feuerte er die Steinschloßpistole ab. Doch da ihn der Treffer mit wohlerwogener Absicht aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, schlug die Kugel lediglich ein paar Funken aus dem Felsen.
Smoky blickte fassungslos auf seinen gefällten Gegner, aber das konnte Hilo Palmeiro schon nicht mehr sehen.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, sah der Pinasse mit den leeren Wasserfässern entgegen, als der Schuß fiel.
Luke Morgan, Sam Roscill und Matt Davies, der Mann mit der Haken-Hand, hatten eine weitere Quelle an der Westseite der Insel entdeckt. Eine Quelle, die passenderweise in Kaskaden über Felsvorsprünge floß, so daß man die Fässer nur unter das fallende Wasser stellen brauchte, um sie zu füllen. Am Strand waren der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker, der blonde Stenmark, Dan O’Flynn und der Moses Bill damit beschäftigt, aus jungen Palmenstämmchen und Lianen Tragegestelle zu fertigen. Arwenack, der Schimpanse, hüpfte um sie herum, keckerte aufgeregt und trommelte sich auf die behaarte Brust, als wolle er Besitzansprüche auf die Insel anmelden.
Der Schuß ließ nicht nur die Männer, sondern auch den Affen erstarren.
Philip Hasard Killigrew wirbelte herum, die eisblauen Augen zusammengekniffen. Der Schuß war irgendwo im Dickicht auf der Anhöhe gefallen, die den Mittelpunkt der Insel bildete. Kein Schrei folgte, kein Kampflärm – nur das eigentümlich hohe, schrille Singen, das entsteht, wenn eine Kugel von Stein oder Metall abprallt.
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