„Du lügst!“ Mardengo rammte ihm die Pistole in den Rücken.
Carberry sah im wahrsten Sinne des Wortes rot – es flirrte vor seinen Augen. Er fuhr herum. Ihm war egal, ob Mardengo jetzt abdrückte. Er schlug die Pistole zur Seite und wollte sich auf ihn stürzen, doch Oka Mama und die anderen Kerle waren heran und hielten ihn fest. Carberrys Schulter schmerzte wieder wie verrückt.
Er fluchte, konnte Mardengo immerhin noch gegen das Schienbein treten, und dann brüllte er: „Dir ziehe ich die Haut in Streifen von deinem Affenarsch, du verlauste Mißgeburt!“
Mardengo wich unwillkürlich zwei Schritte vor ihm zurück, und beinah stolperte er in eine der Fallgruben, die – aus naheliegenden Gründen – vorwiegend an der nordwestlichen Seite der Insel ausgehoben waren. Für einen Augenblick verspürte Mardengo Respekt und einen Anflug von Angst vor dem tobenden Riesen, der jetzt Anstalten traf, sich loszureißen.
Erst ein neuerlicher Hieb gegen seine schlimme Schulter brachte den Profos zur Räson. Er mußte kapitulieren, denn er hatte keine Chance. Ohne die Schulterverletzung wäre es ihm vielleicht gelungen, die Feinde in einem Überraschungsangriff zu überrumpeln – so aber war er ihnen ausgeliefert. Er verbiß sich die Schmerzen. Aber er hörte nicht auf zu fluchen. Sein Gebrüll tönte über die ganze Insel.
Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätten die Männer der „Isabella“ jetzt gegrinst. Sie hörten das Gebrüll ihres Profos, und auch sie wußten, was geschehen würde, ehe die Piraten mit ihrem Gefangenen am Ufer des Flusses erschienen.
Sir John schlug wild mit den Flügeln und krächzte. Batuti hielt den Papagei zurück, damit er nicht in den Dschungel flog.
„Ganz ruhig bleiben, Sir John“, sagte er sanft. „Die Piraten schießen auf alles, was sich bewegt.“
Auch Arwenack, der Schimpanse, und Plymmie, die Wolfshündin, schienen mit ihren Instinkten etwas von dem drohenden Verhängnis zu spüren. Arwenack fletschte die Zähne, Plymmie knurrte. Philip und Hasard, die Söhne des Seewolfs, redeten leise auf die Hündin ein und versuchten, sie zu beruhigen. Tamao und Asiaga hatten den Affen, mit dem sie sich bestens angefreundet hatten, in ihre Mitte genommen, und Asiaga streichelte ihm den Hinterkopf. Arwenack verdrehte die Augen, gab seine aggressive Haltung auf und setzte eine Art verzücktes Grinsen auf.
Little Ross wandte sich mit gedämpfter Stimme an Smoky: „Die Drecksäcke haben den Profos. Wie wäre es, wenn wir ein Zielschießen auf sie veranstalten – mit Pfeil und Bogen? Shane und Batuti können doch hervorragend damit umgehen, sie würden Carberry bestimmt nicht verletzen.“
„Das weiß ich“, brummte Smoky. „Aber wir unternehmen trotzdem nichts. Wir haben unsere klaren Anweisungen, hast du das vergessen? Du mußt bei uns wohl doch noch einiges lernen.“
„Ich stinke ja nicht gegen die Befehle von Hasard an“, sagte Little Ross. „Aber mir juckt es ganz höllisch in den Fingern. Ich hätte große Lust, den Hurensöhnen da drüben noch einmal meinen Säbel um die Ohren zu hauen.“
„Was meinst du, wo es uns juckt?“ sagte Gary Andrews. „Besonders die Alte würde ich mir gern vorknöpfen. Hast du eine Ahnung, wer sie ist, Little Ross?“
„Sie muß Okachobee sein, Mardengos Mutter. Über sie werden die verrücktesten Geschichten erzählt. Sie ist eine echte Seminolin. Die Piraten nennen sie Oka Mama, glaube ich.“
„Sie ist eine Hexe“, sagte Philip junior.
„Hexen gibt es nicht“, sagte sein Bruder.
Philip stieß ein wütendes Schnaufen aus. „Doch. Hier, auf dieser Insel.“
Es wurden noch ein paar Worte gewechselt, doch dann verstummten alle, denn die Piraten traten mit Carberry aus dem Dickicht – am Ostufer, keine dreißig Yards von der „Isabella“ entfernt.
Mardengo und die anderen Kerle hielten den Profos fest, Oka Mama fuchtelte mit ihrem Messer herum.
Mardengo richtete seinen Blick auf die „Isabella“, hob den Kopf und schrie: „Engländer! Ich will euren Kapitän sprechen!“
Ben Brighton stand am Steuerbordschanzkleid des Achterdecks. Ruhig erwiderte er: „Der Kapitän hat sich in seine Kammer zurückgezogen.“
„Dann ruft ihn!“ brüllte Mardengo.
Ben tat alles, um Zeit zu gewinnen. Das war jetzt das wichtigste – Hasard brauchte sie, um sich bewegen zu können, er mußte soviel Spielraum wie möglich gewinnen. Es hatte wenig Zweck, wenn er Oka Mama, Mardengo und den anderen Freibeutern jetzt in den Rücken fiel. Befreite er Carberry, befanden sich Roger und Sam – falls sie noch lebten – nach wie vor in Gefahr.
Hasards Plan sah anders aus. Er war einfach, aber vom strategischen Standpunkt logisch. Auch Ben hatte noch einmal alles durchdacht und war zu dem Schluß gelangt, daß der Seewolf im Begriff war, das in ihrer Situation einzig Richtige zu tun.
„Mister O’Flynn“, sagte Ben. „Holen Sie den Kapitän.“
„Aye, Sir!“ Old Donegal Daniel O’Flynn zeigte klar, verlor dabei eine seiner Krücken und kippte prompt um. Fluchend landete er auf den Planken. Er streckte die Hand nach der Krücke aus, zog sie wieder zu sich heran, rappelte sich ächzend auf und drohte dabei wieder das Gleichgewicht zu verlieren. Die ganze Angelegenheit zog sich in die Länge, der Alte brauchte viel Zeit, um überhaupt das Achterdeck zu verlassen.
„Mardengo!“ schrie Oka Mama. „Sie halten uns zum Narren!“
„Halt dein Maul, du Nebelkrähe!“ brüllte Carberry. „Du wirst heute noch gerupft, keine Angst!“
Mardengo hieb ihm den Pistolenkolben in die Seite, dann sprang er einen Schritt vor und rief: „Engländer! Wagt es nicht, uns hinzuhalten! Her mit dem Kapitän – oder ich kitzle euren Profos mit dem Messer!“
„Sie haben ihn schon verletzt“, sagte Big Old Shane grollend. „Er blutet. Herrgott, das werden sie noch schwer bereuen.“
Old O’Flynn war auf dem Quarterdeck, riß das Achterdecksschott auf und brüllte: „Sir! Sie werden verlangt!“
„Wer will mich sprechen?“ ertönte eine Stimme aus der Achterdeckskammer.
„Der Piratenführer, Sir!“ schrie Old O’Flynn.
Es polterte und krachte – Oka Mama und Mardengo, die die Laute deutlich vernahmen, tauschten unwillkürlich einen verdutzten Blick. Dumpfe Schritte marschierten durch das Achterkastell der „Isabella“. Selbst Carberrys Augen verengten sich, er senkte den Kopf und schob dabei das Rammkinn vor. Hölle, Hasard, dachte er, warum machst du es bloß so spannend?
In diesem Augenblick erschien der „schwarzhaarige Bastard“ auf dem Quarterdeck und enterte das Achterdeck. Carberry erkannte sofort, daß es nicht Hasard, sondern Ferris Tucker war, der sich eine schwarze Perücke aufgesetzt hatte. Aber er hielt den Mund. Daß die Kameraden sich einen Trick zurechtgelegt hatten, um die Piraten zu überlisten, konnte er sich denken. Um welche Art von Plan es sich genau handelte, wußte er noch nicht, aber er ahnte, daß sich Hasard nicht mehr an Bord der „Isabella“ befand.
Mardengo und Oka Mama spähten lauernd zur „Isabella“, ebenso die Piraten, die den Profos nach wie vor festhielten. Hatte sich der schwarzhaarige Kapitän nicht irgendwie verändert? War nicht etwas Seltsames an seinem Verhalten, an seiner Art, sich zu bewegen?
Nein, das konnte nicht sein. Es waren die angespannten Nerven, die ihnen einen Streich zu spielen drohten.
„Ist er das auch wirklich?“ fragte Oka Mama mißtrauisch.
„Du hast ihn doch aus der Nähe gesehen“, antwortete ihr Sohn.
„Es ging alles viel zu schnell, ich habe ihn nicht richtig bemerkt“, sagte die Alte. „Aber du – du hast ihn beim Gefecht von Fort St. Augustine dicht vor dir gehabt.“
„Ja, aber auch dort ging alles viel zu schnell.“ Mardengos Miene wurde finster. Ungern erinnerte er sich an die Niederlage von St. Augustine. Die Engländer hatten ihn mit ihrem Katapult vom Schiff in den Rio Matanzas befördert – schimpflicher hätte der Kampf nicht enden können.
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