Ich hoffe, dass durch all die Auseinandersetzungen mit irgendwelchen Spinnern meine Urteile nicht zu voreilig geworden sind. Und wenn schon. Man muss nicht jedem gegenüber offen sein. Laufe auf meine Eingangstür zu. Plötzlich brausen zwei Fahrradfahrer an mir vorbei. Aus Reflex schlage ich mit der Tasche um mich. Treffe einen der beiden auf dem Rücken. Er gerät ins Schwanken. Stürzt über den Lenker und knallt mit voller Wucht gegen den Mülleimer. Er rührt sich nicht vom Fleck.
»Meine Nase! Meine Nase!«
Führe mir noch einmal seine Flugbahn vor Augen und finde das Ganze plötzlich unglaublich witzig. Kann mich nicht mehr zurückhalten und muss lachen.
»Das war olympiareif. Herrlich!«
Muss mir die hohen Schuhe vom Fuß streifen, sonst falle ich noch hin. Es ist zum Totschießen! Er wirft mir ein paar Ausdrücke an den Kopf, doch übertönt mein Gelächter alles. Es tut mir so leid. Versuche, mir den Mund zuzuhalten. Freudentränen kullern meine Wangen herunter.
»Oh nein.«
Er baut sich langsam wieder auf. Schnappt sich sein Fahrrad, schüttelt den Kopf und fährt weiter. Reibe mir das Gesicht trocken. Ich hoffe, dass mein Make-up nicht verschmiert ist. Es ist nun mal Freitagabend. Wer weiß, was noch passiert? Kämpfe mich barfüßig die knarrende Treppe nach oben und drücke die Klingel. Nach wenigen Tagen mit den beiden Chaoten in einer WG habe ich mir das ziemlich schnell angewöhnt. Es ist eine Art Signal, dass ich gleich das Apartment betrete. Eine Chance, mich vor den schlimmsten Bildern zu bewahren. Drehe den goldenen Schlüssel und betrete die Wohnung.
»Scheiße!«
Wedle mir den Rauch aus dem Gesicht. Ich muss husten.
»Was ist denn hier passiert!«
Werfe meine Schuhe zur Seite. Sie verschwinden im Rauch. Ich dreh noch durch. Halte mich an der Wand fest und taste mich langsam durch den Flur. Rotes Licht leuchtet aus der Küche. Ist das Feuer? Stecke meinen Kopf vorsichtig durch den Türrahmen.
»Was zur Hölle? Sebastião!«
Er rührt sich nicht vom Fleck. Er muss wieder völlig drauf sein.
»Sebastião!«
Keine Reaktion. Er steht auf dem Küchentisch. Über ihm eine rote Lampe. Wer weiß, wo die herkommt. Genau über seinem Kopf. Sein Gesicht leuchtet rot. Seine Augen sind geschlossen. Um seinen Körper ist Klopapier gewickelt. Ich verlasse die Küche. Denke laut: »Es gibt ja noch jemand anders.«
Öffne die Tür meines Zimmers. Niemand da. Laufe weiter. Nächste Tür.
»Fabio!«
Er erschreckt. Ich huste. Mit riesigen Augen starrt er mich an. Aus seinen Boxen dröhnt Musik oder so etwas. Trommeln auf jeden Fall.
»Du hast doch ’nen Knall.«
»Was?«
»Du hast ’nen Knall!«
»Ja.«
Er lächelt. Dieses verschmitzte Lächeln.
»Was hast du da eigentlich in den Haaren?«
Er fasst sich an den Kopf und schüttelt sich. Er hat sich bestimmt fünfzig Räucherstäbchen ins Haarband geklemmt.
»Bist du verrückt geworden?!«
Ich stürme auf ihn zu. Er springt auf und tanzt um mich herum.
»Wenn ich dich in die Finger kriege!«
Er beginnt zu lachen. Werfe mich in seine Richtung. Er weicht aus. Ich stürze gegen den Tisch. Ein Tischbein bricht und alles rutscht herunter. Werde wütend.
»Du kleiner …«
Er rennt aus dem Zimmer. Ich hinterher. Bekomme den ganzen Rauch in den Hals, der in Schwaden hinter ihm herzieht. Hebe die Hand vors Gesicht.
»Das kann doch nicht wahr sein.«
Gehe in die Küche. Er versteckt sich hinter Sebastião, der immer noch als Mumie unter dem roten Licht steht.
»Jetzt reicht’s.«
Reiße die Schranktür auf, werfe alle Gewürze auf den Boden und ziehe den Minirevolver hervor. Entsichere ihn. Richte die Waffe nach oben.
Schreie: »Aufhören!«
Und schieße dreimal in die Decke. Sebastião ist aus seinem Koma erwacht. Beide starren mich entsetzt an. Ich ringe nach Luft. Der Putz von der Decke fliegt uns auf den Kopf. Sie sind wieder da. Wir schauen uns alle mit großen Augen an.
»Kate. Warum hast du denn ’ne Waffe in der Hand?«
»Ich hab dir doch gesagt, sie ist gewalttätig.«
»Ihr könnt mich mal!«
»Und was machen wir eigentlich hier auf dem Küchentisch? Und was hast du da? Sind das Räucherstäbchen?«
Er zieht eins aus Fabios Haaren.
»Leute, ich weiß, dass ihr crazy seid. Und das schätze ich auch sehr an euch. Aber gehen eure Spielchen mit dem Acid nicht langsam zu weit? Kommt schon. Das geht bereits den ganzen Monat so. Keinen Tag mehr nüchtern und dem anderen immer heimlich LSD unterjubeln – Sebastião und Fabio in wonderland, oder was?«
Sie werfen sich gegenseitig Blicke zu und schmunzeln. Ich muss durchatmen. Sie küssen sich, dann lachen sie.
»Sehr komisch. Und ich denke, unsere Wohnung brennt ab!«
»Jetzt übertreib mal nicht.«
»Na schau dich doch mal um.«
Er verdreht die Augen. Ich schüttle den Kopf. Chaos-WG. Gehe zum Fenster und lasse etwas Luft rein.
»Frische Luft. Würde euch auch mal guttun.«
»Jetzt komm uns nicht wieder so.«
»Na ja. Ich kann immer noch nicht begreifen, wie du auf LSD beim Jobcenter sein konntest. Das ist doch völlig absurd.«
Sebastião schaut Fabio verwundert an.
»Ach ja, wirklich? Du warst auf LSD beim Jobcenter? Hast du mir gar nicht erzählt.«
»Du hast ihm an dem Morgen zwei Tropfen Acid in den Orangensaft getan.«
Er lacht.
»Das stimmt. Aber ich wusste nicht, dass er danach beim Jobcenter war. Die Geschichte wird immer besser. Erzähl, wie war’s?«
»Ziemlich schräg. Ich bin ja schon auf der Hut vor dir – doch der Orangensaft am Morgen, das hätte ich nicht gedacht. Ich bin nüchtern. Plötzlich bin ich high. Wie aus heiterem Himmel. Was für ’n Spaß.«
Er niest. Der Rauch um ihn herum wirbelt auf. Es riecht verbrannt.
»Also. Ich in der Bahn. Hoffe, dass kein Kontrolleur kommt, weil ich kein Ticket habe. Alles wie immer, völlig überfüllt und ich voll drauf. Leichte Platzangst. Alle drängeln sich aneinander und keiner spricht ein Wort. Ziemlich bedrückendes Gefühl. Und dann die Vorstellung, dass jeder Typ mit einer Bauchtasche ein Kontrolleur sein könnte. Wie nervig. Ich bin viermal ausgestiegen, weil ich dachte, es kommt einer. Scheiße, hab ich Angst gehabt. Hab mich gefühlt, als würde ich vor einem Monster wegrennen. Und die ganzen Blicke um mich herum. Okay. Ich glaube, dass ich die mit meinen großen Pupillen auch ziemlich blöd angestarrt habe.«
Fabio schreckt auf und schreit: »Verdammt!«
Wir zucken zusammen. Er hat sich das Band vom Kopf gerissen und die Räucherstäbchen auf den Küchenboden geworfen. Die Glut schießt in alle Richtungen. Ich mache einen Sprung nach hinten. Versuche, mich davor zu retten. Sebastião schaut verträumt auf das Lichterspiel.
»Ist das schön …«
Ich könnte sie umbringen.
»Meine Haare brennen ab!«
»Selber schuld! Wer macht auch so was?«
»Ja, ja. Sag mal, hab ich da was?«
Er dreht sich um und zeigt auf seinen Hinterkopf. Oh nein. Eine riesige kahle Stelle. Wenn ich ihm das verrate …
»Nein. Alles gut. Beruhig dich. Du siehst hübsch aus wie immer.«
Er dreht sich um und lächelt.
»Erzähl weiter.«
»Ja. Ich komm also beim Jobcenter an. Viel zu spät natürlich. Und dann umgeben von all den Menschen. Ihr könnt euch vorstellen, was das für Gespräche dort sind.«
Er schüttelt den Kopf.
»Das war zu viel für mich. Probleme über Probleme über Probleme und über deren Problemkinder. Erst als ich endlich aufgerufen wurde, hab ich realisiert, dass ich auf dem Boden saß. Aus irgendeinem Grund habe ich meditiert. Ja, wirklich! Mitten auf dem Boden im Warteraum des Jobcenters. Ich habe noch nie zuvor meditiert. Ihr hättet die Blicke sehen sollen. Das Highlight kommt noch. Ich gehe schlussendlich zu meiner Zuständigen, Frau Topf, die auch genau so aussieht, und da setzt es voll ein. Ich tue so, als könnte ich noch lesen, male aber, statt zu schreiben, und halte energisch eine Rede, dass ein Staat wie Deutschland nicht nur Arbeitslosengeld, sondern auch Liebe verteilen sollte. Noch euphorisch von der Rede, habe ich dann nicht mit meinem Namen, sondern mit Gandhi unterschrieben und dahinter ein Herz gesetzt. Plötzlich regte sich in mir ein gewisses Misstrauen Frau Topf gegenüber. Sie wusste einfach zu viel. Das war mir unheimlich. Aus ihrem topfähnlichen Kopf wuchs eine tanzende Pflanze. Eine tanzende, fleischfressende Pflanze. Ich hatte Angst. Sie fragte mich immer wieder, was mit mir los sei. Ich schüttelte nur den Kopf und ließ die Pflanze nicht aus den Augen. Irgendwann bemerkte ich, dass sie mit den anderen Pflanzen im Raum kommunizierte. Und da kam mir ein beunruhigender Gedanke: Möglicherweise kannte sie auch die Pflanzen in unserer Wohnung? Sie alle teilten Informationen miteinander! Ja, sie wussten alles! Bei der Erkenntnis schrie ich auf und rieb mir hysterisch die Brust.
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